„Die Distanz zur EU ist deutlich gewachsen“

In der Türkei wächst die Skepsis zur Europäischen Union. Kritisiert wird die Brüsseler Haltung zur Zypernfrage, die Türkei sieht ihre Anstrengungen nicht richtig gewürdigt. Andere Kritikpunkte sind berechtigt, meint der Publizist Haluk Sahin

taz: Herr Sahin, hat der Fortschrittsbericht aus Brüssel Sie überrascht? Gab es Elemente, mit denen sie nicht gerechnet hatten?

Haluk Sahin: Nein, eigentlich nicht. Die Kritik war ja erwartet worden. Neu ist lediglich, dass die EU zur Einlösung der Zollunion mit Zypern nun die Frist bis Mitte Dezember gesetzt hat. Das ist aber auch keine wirkliche Überraschung, sie müssen sich wegen Zypern ja verhalten. Das einzig wirklich Neue im Verhältnis EU/Türkei ist, dass die Situation in der Türkei sich geändert hat. Anders als vor einem Jahr ist die türkische Öffentlichkeit deutlich auf Distanz zur EU gegangen. Gerade mal knapp die Hälfte ist noch für eine Mitgliedschaft, ganze sieben Prozent vertrauen der EU als Institution.

Heißt das, dass jetzt auch die Mehrheit der Türken glaubt, die kulturellen und religiösen Differenzen zur EU seien unüberbrückbar?

Nein, das ist ganz klar eine Reaktion auf die tatsächliche oder auch eingebildete Ablehnung der Türkei durch die EU Mitglieder, eine Folge der Dauerkritik und des schlechten Klimas.

Ist die Kritik aus Brüssel denn wirklich so unfair?

Nein, was die innenpolitischen Defizite angeht, hat Brüssel ja völlig Recht. Der Strafrechtsparagraf 301, der unter anderem die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt, gehört natürlich abgeschafft, er hätte vielmehr erst gar nicht so in das neue Strafgesetzbuch hineinkommen dürfen. Schon im Vorfeld der Reform haben wir, Journalisten und Schriftsteller, bei den Anhörungen vor einem solchen Paragrafen gewarnt, aber damals wurde vieles übers Knie gebrochen, nicht zuletzt, weil Brüssel einen großen Zeitdruck ausgeübt hat. Auch andere Kritikpunkte, wie anhaltende Folter oder fehlende Minderheitenrechte, sind berechtigt, aber darüber regen sich die Leute ja auch gar nicht auf.

Sondern? Was ist dann das Problem?

Es sind vor allem zwei Punkte, die das Klima vergiften. Das ist einmal Zypern. Praktisch jeder in der Türkei, egal ob politisch links oder rechts, säkular oder religiös, findet, dass die Türkei und vor allem die türkischen Zyprioten mit der Zustimmung zum Annan-Plan, also dem Vorschlag der UN für eine Wiedervereinigung der Insel auf der Basis zweier autonomer Kantone im Frühjahr 2004, ihre Leistung für eine politische Lösung des geteilten Zypern erbracht haben. Dass Zweidrittel der türkischen Zyprioten damals trotz aller Ängste für diesen Plan gestimmt haben, der ja die Umsiedlung hunderttausender türkischer Zyprioten vorsah, war schon so etwas wie ein politisches Wunder. Auch die türkische Regierung, die den Plan gegen das eigene Militär und den Widerstand der Nationalisten zu Hause unterstützt hat, ist damit ein hohes Risiko eingegangen.

Dieses Risiko ist also von der EU nicht honoriert worden?

Das Ergebnis der ganzen politischen Operation war am Ende eine Belohnung für die versöhnungsunwilligen Griechen, die gegen den Plan stimmten, und ein fortgesetztes Abstrafen der Türken. Die griechischen Zyprioten wurden EU-Mitglied, die türkischen Zyprioten blieben draußen und werden von der EU weiterhin boykottiert. Das ist nicht akzeptabel, da sind sich alle einig und sehr enttäuscht, dass Europa das offenbar nicht so sieht. Der zweite Punkt ist die Armenierfrage. Dass in verschiedenen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich und Holland, jetzt die Anerkennung eines Völkermords an den Armeniern nachträglich zu einem EU-Beitrittskriterium gemacht wird, wird selbst von den Armeniern in der Türkei als eine Instrumentalisierung zum Zwecke des Türkenbashing empfunden. Wenn man die Bevölkerung eines Landes gegen sich aufbringen will, muss man es so machen.

Sehen Sie denn jetzt noch eine Chance, in der Zypernfrage innerhalb eines Monats eine Lösung zu finden?

Nein, da müsste schon ein neues Wunder geschehen.

Also wird es auf dem kommenden Gipfel einen Abbruch der Verhandlungen geben?

Das glaube ich nicht. Ich gehe davon aus, dass man sich darauf einigen wird, einige Kapitel auf Eis zu legen und erst einmal andere Bereiche, die Handel und Wirtschaft nicht betreffen, vorzieht. Insgesamt wird es zu einer Verlangsamung des Prozesses kommen, aber die Verhandlungen sollen ja sowieso 15 Jahre dauern. Die Mehrheit in der Türkei denkt, letztlich wird sich die große EU nicht zur Geisel der griechischen Zyprioten machen lassen und gegen ihre eigenen Interessen die Türkei dadurch verlieren.

Es gibt ja vermehrt Stimmen hier, die sagen, die Türkei solle von sich aus die Verhandlungen unterbrechen, bis die EU unter sich geklärt hat, was sie mit der Türkei nun wirklich will. Was halten Sie davon?

Nein, das halte ich für falsch. Der Prozess sollte weitergehen. Man muss auf beiden Seiten gelassener werden. Es wird immer wieder ein Auf und Ab in den Verhandlungen geben, das soll man nicht überdramatisieren. Meiner Meinung nach befinden wir uns nicht in einer Sackgasse, sondern wir stehen im Stau. Wenn man im Stau steht, lässt man auch nicht einfach sein Auto stehen und wirft den Schlüssel weg. Letztlich überwiegt doch auf beiden Seiten das Interesse, mit den Verhandlungen fortzufahren.

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH