Aus dem Nähkästchen

KOMMUNIKATION Die jüngsten Wikileaks-Enthüllungen laufen allen klassischen diplomatischen Gepflogenheiten zuwider. Warum das nicht immer etwas Gutes sein muss

Wer würde schon am Schwarzen Brett anschlagen, was er von der Nachbarin oder vom Hausherrn hält?

AUS WIEN RALF LEONHARD

Diplomaten sind dazu da, die zwischenstaatlichen Beziehungen zu pflegen und ihre Heimatregierung über Entwicklungen im Gastland auf dem Laufenden zu halten. Beurteilungen über Politikerinnen und Politiker dieses Landes gehören zum täglichen Geschäft. Früher wurden solche Informationen in verschlüsselten Telegrammen oder per Diplomatenkurier übermittelt. Heute bedient man sich gerne des bequemeren Mailverkehrs, der selbst von jugendlichen Computer-Nerds gehackt werden kann. Nicht nur die Öffentlichkeit interessiert sich für brisante Enthüllungen genauso wie für peinlichen Tratsch: Man darf sich keine falschen Vorstellungen über die Qualität des Smalltalks auf diplomatischen Empfängen machen.

Auf dem Lehrplan der Diplomatischen Akademie in Wien war eine Einführung in die Diplomatensprache nicht vorgesehen. Neben hocheffizientem Unterricht in drei bis vier UNO-Sprachen, internationaler Politik, Geschichte und Wirtschaft wurde Diplomatiegeschichte geboten. Da lernt man aus Geniestreichen oder Versagen der Staatsmänner der Vergangenheit. Dokumente, die damals hochvertraulich waren, erlauben heute einen Einblick in Motive und Überlegungen der Großen. Wären diese damals öffentlich gewesen – die Geschichte hätte vielleicht andere Wendungen genommen. Die Vorlesung über Etikette war vor 30 Jahren auf der Diplomatenschule eher ein Kuriosum. Da ging es um Tischregeln und korrekte Anreden für Würdenträger. Die Sprachregelungen und das Verklausulieren politischer Aussagen lernt man dann in der Tretmühle des Auswärtigen Amtes.

Die eherne Spielregel besagt: keine Zitate, Informationen dürfen nicht zugeordnet werden. In den 1990er Jahren war es ein Abgeordneter der noch jungen Grünen, der in seiner Empörung über verklemmt-rassistische Bemerkungen des deutschen Botschafters in Haiti den ungeschriebenen Codex brach und an die Presse ging. Bei einem launigen Hintergrundgespräch mit einer Bundestagsdelegation in Port-au-Prince hatte der Diplomat seine Deutung des raschen Bevölkerungswachstums im Karibikstaat dargelegt: „Die Frauen wollen immer und die Männer können immer.“

Ob er solches auch in seine Berichte ans Auswärtige Amt geschrieben hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls musste er seinen Posten räumen.

Es heißt, dass der Mensch täglich 200-mal lügt. Anders wäre das Zusammenleben kaum erträglich, meinen Psychologen. So verhält es sich auch mit den Nationen. Vor allem zwischen befreundeten oder alliierten Ländern vermeidet man es, sich Unfreundlichkeiten auszurichten. Einem Politiker, den man als Freund betrachtet, tut man nicht unbedingt einen Gefallen, wenn man ihn als engsten Vertrauten im Kabinett bezeichnet. Wladimir Putin mag es schmeicheln, wenn Hillary Clinton in ihm einen „Alpha-Rüden“ sieht. Aber für die Öffentlichkeit sind solche Einschätzungen aus guten Gründen nicht bestimmt. Wer würde schon am Schwarzen Brett im Haus anschlagen, was er von der Nachbarin oder vom Hausherrn hält? Freunde macht man sich mit solcher Offenheit nicht. Dass Journalisten 2008 auf der Reise zum G-8-Gipfel in Japan die Beurteilung des State Department über Italien und dessen Regierungschef Silvio Berlusconi in einer Pressemappe in die Hand gedrückt bekamen, dürfte nicht den Intentionen entsprochen haben. Die Darstellungen, wonach der Regierungschef als „politischer Dilettant“ eingestuft werde, von vielen gehasst und schon als Kind eine „Leidenschaft fürs Geld“ entwickelt habe, entsprächen nicht „der Sichtweise von Präsident Bush“, musste der stellvertretende Sprechers des Weißen Hauses, Toni Fratto, in einem zerknirschten Entschuldigungsschreiben klarstellen. Auch die Beschreibung Italiens als Land, „das bekannt ist für Korruption und Lasterhaftigkeit“, sei ein „unglücklicher Fehler“ gewesen.

Es mag interessant sein, was man in Europas Staatskanzleien wirklich von George W. Bush hielt oder wie das State Department über die Verbündeten im Nahen Osten, Ägypten und Israel, denkt. Den internationalen Beziehungen ist es sicher nicht förderlich, wenn wir alle es wissen. Daher werden sich Diplomaten künftig wohl auch intern lieber nichtssagender Floskeln bedienen – und ihre wirkliche Meinung nur mehr mündlich unter vier Augen mitteilen.

■ Der Autor ist Österreich-Ungarn-Korrespondent der taz und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien (1980)