Parízeks neun Gebote

SCHAUSPIEL Im Theater am Goetheplatz sind „Die zehn Gebote“ als emotionaler Horrortrip in episodischen Monologen zu sehen. Ein ergreifender Theaterabend mit Leerstelle

Gesellschaftskritik ist keine große Stärke des Stücks, auch wenn es sich bisweilen so anfühlt

VON JAN-PAUL KOOPMANN

Braune Masse tropft aus dem Hosenbein eines Gehenkten, eine junge Frau wird von ihren Inzestfantasien gequält und ein kleines Kind ertrinkt unter dem Eis. „Die zehn Gebote“, Dusan David Parízeks Einstand am Bremer Theater, ist außerordentlich beklemmend.

Dabei ist auf der Bühne nichts von dem Grauen zu sehen, denn die SchauspielerInnen erzählen nur. Dreieinhalb Stunden lang berichten sie, wie ihr Leben aus den Fugen geraten ist. Die meisten halten Monologe im schlichten schwarz-weißen Bühnenraum. Aber auch, wenn sie zu zweit sind, kommentieren die Sprechenden eher die Ausführungen des Anderen als miteinander zu spielen. Die Akteure kommen aus den Sitzreihen nach vorn, erzählen ihre Geschichten und setzen sich wieder.

Obwohl das zwischendurch auch lustig ist, tun sich hier Abgründe auf: Diesen Menschen ist Tragisches widerfahren und das Bremer Ensemble ist ausnahmslos in der Lage, die geschlagenen Wunden ergreifend auf der Bühne zu zeigen. Dass sie die Spannung halten können, ist auch deshalb beachtlich, weil das Stück in Form und Länge ausgesprochen anstrengend ist.

Das galt schon für die Vorlage. Der zehnstündige Filmzyklus „Dekalog“ von Krzysztof Kieslowski und Krzysztof Piesiewicz, gedreht im Polen des auseinanderbrechenden Ostblocks, gilt als Meilenstein des modernen Autorenfilms. Auf der Theaterbühne stehen die Protagonisten dieser Filme nun und erzählen den bereits erlebten Plot nach: Innenschau statt Handlung.

So biblisch die Überschrift auch daherkommt, geht es doch um allgemeine Grenzbereiche menschlicher Erfahrung. Sie werden in ihrer psychologischen Dimension ausgewalzt und der Finger auf die moralischen Widersprüche gelegt. Dass diese sich auch mit Gottes Hilfe nicht auflösen lassen, ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis aller Episoden. Manche Katastrophe wären vielleicht ausgeblieben, wenn sich die Protagonisten ans göttliche Gesetz gehalten hätten – die meisten allerdings eher nicht.

Das Bühnengeschehen will entschlüsselt werden und das ist mitunter kompliziert. Zwar ist jede Episode einem Gesetz zugeordnet, die Zusammenhänge lassen sich aber nicht auf einzelne Motive herunterbrechen: Ehebruch kommt öfter vor, ohne jeweils ausdrückliches Thema zu sein. Auch wenn die klug konstruierten Geschichten die Mühe lohnen, kommen abgehängte Zuschauer anders wieder rein. Vom emotionalen Horrortrip, den der Tod des eigenen Kindes bedeutet, über das Scheitern einer Ehe an Impotenz und Eifersucht bis zur abschließenden Komödie um eine geerbte Briefmarkensammlung – die Geschichten funktionieren für sich.

So fällt dann auch kaum auf, dass das Stück bereits nach neun Episoden vorbei ist. Es fehlt das achte Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Ein verzichtbarer Verlust, scheint es, auch in den anderen Episoden wird doch gelogen. Welcher Teil der ansonsten penibel umgesetzten Vorlage fehlt, ist aber trotzdem bemerkenswert: Kieslowskis achter Film handelt von einer Jüdin, die als Kind nicht vor den Nazis versteckt wurde, weil eine gläubige Katholikin „nicht falsch Zeugnis reden“ wollte.

Was hier mitsamt des Holocausts aus der Inszenierung fliegt, ist die gesellschaftliche Dimension der individuellen Schicksalsschläge. Und möglicherweise eine Debatte um die historische Schuld einer sich als christlich verstehenden Wertegemeinschaft. Das Ausblenden der politischen Frage wäre konsequent, würde nicht an anderer Stelle anders verfahren: „Du sollst nicht töten“ wird mit viel Tamtam als Kritik der Todesstrafe inszeniert. In einem Land, das diese lange abgeschafft hat, ist das kaum mehr, als sich ob der eigenen Errungenschaften auf die Schulter zu klopfen. Daran ändert auch die viel zu allgemeine Frage ans Publikum nichts, ob die Angst vor Strafe jemals ein Verbrechen verhindert habe. Gesellschaftskritik ist keine große Stärke des Stücks, auch wenn es sich bisweilen so anfühlt.

Am Ende des kräftezehrenden Theaterabends ist diese Leerstelle dann aber zu verschmerzen. Parízek und seine Schauspieler haben einen ausgesprochen scharfen Blick für die menschliche Tragödie bewiesen und sie mit großem Können gleich neunmal an einem Abend auf die Bühne gebracht. Zehn glänzende Hauptrollen ohne Unterstützung, Bühnenbild und Happy End. Ein Highlight der Spielzeit, für das es zu Recht ausdauernden Applaus gab.

■ Weitere Termine: 19. und 31. Mai, 19.30 Uhr, sowie 15. Juni, 15.30 Uhr, Theater am Goetheplatz, Großes Haus