Im Plastizän

ANSCHLUSSBEITRAG Wird vielleicht durch Evolution der Bakterien bald alles Plastik abbaubar – samt Horrorvision der zerstörten Plastikwelt?

Vergangene Woche forderte Blue-Economy-Guru Gunter Pauli an dieser Stelle, ölbasierte Kunststoffe schneller durch kompostierbares Bioplastik zu ersetzen. Hier eine Reaktion auf den Text. Laut dem ehemaligen Chefredakteur der Designzeitschrift form+zweck, Günter Höhne, hatte man in der DDR „andere Ansprüche an die Produkte als in der kapitalistischen Warenwelt“. Neben der Notwendigkeit, sparsam mit Energie und Rohstoffen umzugehen, gab es den allgemeinen Anspruch auf die Langlebigkeit von Produkten. Dies galt auch für Plasteprodukte. Nach der Chemiekonferenz der Partei 1958 wurde fast eine „Plastifizierung des ganzen Landes“ eingeleitet.

Schon bald kamen hunderte neuer Produkte aus Plaste und Elaste in den DDR-Handel, hergestellt von damals 800 teilweise noch privaten Betrieben. Die „Gestaltung“ der Produkte sollte „im Sozialismus“ anders sein als im kapitalistischen Westen: „Modern, aber nicht modisch!“ Maßgeblich beteiligt waren daran die Formgestalter der Hochschule für industrielle Formgestaltung Halle.

50 Jahre später sind dagegen immer mehr Plastikprodukte Wegwerfartikel. Wie Gunter Pauli schreibt, kommen allein an Einkaufstüten in der EU 100 Milliarden jährlich in den Handel. Ein Teil des Plastiks landet im Meer. Durch Wasserbewegung und Sand werden von den Plastikteilen ständig winzige Partikel abgeschmirgelt: Auf Hawaii gibt es bereits Strände, die mehr Mikroplastikpartikel („konfettiähnliche Bruchstücke“) als Sandkörner enthalten. Angefangen von den Kleinstlebewesen im Meer über die Krebse und Fische bis zu den Landlebewesen sind diese unzersetzbaren Polymerteilchen inzwischen auch massenhaft in unseren Körpern eingelagert.

Die Künstlerin Pinar Yoldas hat sich mit Meeresbiologen zusammengetan und anschließend eine „künstlerische Formensprache“ gefunden, die das unsichtbare „neue posthumane Ökosystem der Plastisphäre, in das sich die Weltmeere verwandeln“, sichtbar macht. Ihre Objekte stellte sie kürzlich in der Berliner Galerie der Schering-Stiftung aus, die ihr auch einen Katalog finanzierte, in dem mehrere Experten zu dieser Vermüllung der Ozeane interviewt wurden. Die Objekte von Pinar Yoldas gehen – optimistisch – davon aus, dass es der Flora und Fauna des Meeres gelingt, die Mikroplastikpartikel zu verdauen, wozu sie unter anderem einige ihrer Organe umwandeln müssen: Science Fiction Art – letztlich biomorphes Plastikdesign.

Ironischerweise entdeckte das US-Biologenehepaar Zettler vor einem knappen Jahr, dass es inzwischen Bakterien zu geben scheint, die tatsächlich von Plastik im Meer leben, jedenfalls wiesen Plastikteile, die sie untersuchten, kleine Mulden auf, die eigentlich nur von Mikroorganismen herrühren können. Da Kunststoffe wasserabweisend sind, ermöglichen sie die Ansiedlung von bis zu 1.000 verschiedenen Mikrobenarten auf einem einzigen Stück Plastik. Diese überziehen es mit einem „Biofilm“ bzw. bilden darauf „gelatinöse Ökosysteme“. So entwickeln sich vielleicht bald Erdölabfallprodukte entsorgende Mikroorganismen.

Es gibt bereits einen Zukunftshorrorroman, der darauf anspielt: „Der Plastikfresser“. Darin geht es um ein aus dem Labor entwichenes „mutiertes Bakterium“, das unsere ganze Plastikwelt zerstört: Flugzeuge stürzen ab, unsere Kleidung zerfällt, Tische und Wasserkessel lösen sich auf. Die Bakterie kann bald nicht mehr nur Polyethylen, sondern auch Polyvinylchlorid verdauen.

Bei den plastikfressenden Bakterien in der pazifischen „Plastiksuppe“ des Ehepaars Zettler fragt man sich bereits, was sie denn an Unverdaulichem, an langlebigen organischen Schadstoffen (wie Weichmacher) und neuen chemischen Verbindungen ausscheiden. Auf alle Fälle kann man diese „Mikroben der Plastisphäre“ nicht als Laborausbrecher bezeichnen; diese Organismen entstanden, als das Labor, mit Bruno Latour gesagt, von innen nach außen gekehrt und so die Welt zum Experiment wurde“.HELMUT HÖGE

■ Der Autor ist auch Wanderer durch die Zivilisationsgeschichte und Aushilfshausmeister der taz