Trickser in der Provinz

BUNDESLIGA Diego, dessen Ideen den VfL Wolfsburg an die nationale Spitze führen sollten, ist so recht noch nicht angekommen in seinem neuen Umfeld und denkt immer öfter sehnsuchtsvoll an seine Zeit bei Werder Bremen

„Ich werde Werder immer lieben. Der Verein ist in meinem Herzen“

DIEGO, VFL WOLFSBURG

AUS WOLFSBURG FRANK HELLMANN

Die Spieler sind bis zur Unkenntlichkeit vermummt. Lange Hosen, dicke Jacken, schwarze Handschuhe und Mützen zählen zur Grundausstattung der Fußballer des VfL Wolfsburg, die bei leichtem Schneetreiben und eisigem Wind auf einem angefrorenen Terrain wie tiefgekühlte Pappkameraden positioniert werden. In einem putzigen Sprachmix schiebt Steve McClaren lebendige Mannen hin und her. „You are Pizarro, this is Marin, here Frings“, ruft der Engländer, obwohl der Fußballlehrer nicht Protagonisten des SV Werder, sondern Profis des VfL Wolfsburg üben lässt. Fast anderthalb Stunden dauert die Einheit schon, und ein Ende ist nicht in Sicht. Mittendrin einer, der eigentlich am besten als Double taugen würde: Diego Ribas da Cunha.

Drei Jahre war der kleine Brasilianer ein Bremer Held, der Star inmitten ebenjener nachgestellten Figuren wie Pizarro und Frings. Diego ging als Gesicht der Liga durch, das im Sommer 2009 den Lockrufen von Juventus Turin nicht widerstehen konnte und wollte. Anderthalb Jahre später wird der Genius vom generös alimentierten Werksverein bestens bezahlt, aber er ist nicht nur geografisch in einer Grauzone gelandet. Vorstandschef Dieter Hoeneß schimpft über die Mentalität einer Millionen-Truppe, die die gewaltigen Investitionen mit Füßen tritt.

Richtig Unmut regt sich hier am Mittellandkanal aber nicht. Beim Training mit unverstelltem Blick auf die Schornsteine der omnipräsenten Autofabrik schauen sechs frierende Kiebitze zu, nur einem munteren Bearded Collie scheint die arktische Kälte nichts anzuhaben. Doch selbst der Hund erschrickt, als McClaren bellt: „Umschalten, umschalten!“ Die Anweisung gilt Diego. McClarens Mannschaft funktioniert ja auch deshalb noch nicht richtig, weil der als neuer Taktgeber verpflichtete Ballzauberer nicht brilliert. Warum das so ist, soll Diego in einer eigens für ihn terminierten Medienrunde erklären.

Als er 2006 vom FC Porto in die Bundesliga wechselte, sei er in eine funktionierende Mannschaft, in ein festes System mit einem starken Trainer gekommen, sagt Diego, „und alle haben gewusst, was zu machen ist.“ 2010 ist es etwas anders: Zwar prangt immer noch ein „W“ auf dem Trikot, die Vereinsfarben sind Grün-Weiß, und er versteht mittlerweile die meisten auf Deutsch gestellten Fragen, „aber jetzt ist es ein neues Projekt, es gibt einen neuen Plan, und unser Coach hat schon einiges ausprobiert“. Formationen wie Mitspieler wechseln; die Nummer 28 wirkt irgendwie isoliert, gewiss nicht optimal integriert. Drei Tore, vier Vorlagen hat er auf dem Konto, Hoeneß findet das „sehr gut“, Diego nur „normal“.

Wann immer er von Wolfsburg redet, regiert Ratio. Es gefalle ihm hier, ja doch, und die Menschen im Klub seien professionell. Diego bewohnt mit seiner Frau Bruna Leticia ein Haus in städtischer Randlage, im nächsten Jahr wird er erstmals Vater, und die Vorstellung zaubert ein Glitzern in seine Augen. „Das wird der größte Moment in meinem Leben.“ So gefühlsduselig wird Diego nur, wenn er über die Begegnung gegen Bremen sprechen soll. Plötzlich wird er emotional: „Ich werde Werder immer lieben. Der Verein ist in meinem Herzen.“ Er hat Exkollegen schon zum Essen besucht und Kontakt „zu Naldo, Claudio Pizarro oder Hugo Almeida“.

Eigentlich bräuchte Kauderwelsch-Kommunikator McClaren nur seinen Spielmacher fragen, er könnte wohl detaillierte Auskünfte zum gestörten Binnenleben des nächsten Gegners bekommen, was Diego öffentlich aber nicht verraten mag. Allein die Unterschiede zwischen McClaren und Thomas Schaaf bringt er filigran wie einen Freistoß auf den Punkt. „Der eine redet mehr, der andere weniger.“

Ist eigentlich ein Hochbegabter wie er, der als 16-Jähriger schon beim FC Santos als Wunderkind verehrt und mit Pelé verglichen wurde, aber mit 25 nicht mehr gut genug für die Selecão ist, zur weiteren Fortentwicklung in Wolfsburg richtig aufgehoben? Diego kennt die Frage. Er erinnert sogleich an seine Anfangszeit bei Santos, als er weinend am Telefon bei der Mutter anrief. Oder die unschöne Phase in Porto, als man das Talent unverstanden auf die Tribüne schickte. Und er verpasst in der Reminiszenz selbst der Bremer Zeit noch eine andere Perspektive: „Ich hatte drei wundervolle Jahre dort, aber auch viele Probleme.“ Mit beinahe philosophischer Finesse dribbelt sich Diego vom Vorwurf frei, das beste Fußball-Alter in der Provinz zu vergeuden. „Es ist ein Auf und Ab. So ist das Leben, so ist der Fußball. Schwierigkeiten sind für einen Mann da, um sie zu überwinden.“ Das feinsinnige Lächeln entlarvt ihn in der VIP-Loge in diesem Moment als Trickser und Täuscher. So wie beim Trainingsspiel vorhin vor der Wolfsburger Arena. Da hatte er gleich zwei Thermojacken angezogen.