ZWISCHEN DEN RILLEN
: MC Elliott Sharp

Elliott Sharp/Carbon: „Void Coordinates“ (Intakt/No Man’s Land)

Das neue Album von Elliott Sharp nimmt man nicht wahr, man erfährt es. Nach einer Stunde und hundertdreißig Sekunden erschließt sich die Leere vermeintlicher Stille als Oase an weiter schwingenden Klängen, Geräuschen und Rhythmen.

Wie außer ihm vielleicht noch der Saxofonist John Zorn steht Sharp für eine offene, Genregrenzen sprengende Spielweise. Und er erreicht diesen Effekt durch die maximale Verdichtung ausgedehnter Instrumentalklänge und ihre scheinbar endlose Wiederholung. Er operiere „im Dienste von Groove und psychoakustischer chemischer Veränderung“, ist im Booklet von „Void Coordinates“ zu lesen.

Als Zeremonienmeister der Gitarren und Electronics, von Sopransaxofon und Komposition fordert Sharp von seinen Bandmitgliedern erweiterte Aufmerksamkeit, sowohl im Zusammenspiel als auch im Umgang mit dem je eigenen Instrument. Die Besetzung von Carbon hat bis heute unterschiedlichste Stadien durchlaufen, ganz so wie der Namensgeber Kohlenstoff die größte Vielfalt an chemischen Verbindungen eingehen kann.

Bereits 1983 gehören zu Carbon neben Sharp immer zwei, von Konzert zu Konzert wechselnde Schlagzeuger. Nicht Jazz ist die Antriebsfeder, sondern Hardcore-Punk und die Experimentierfreudigkeit der freien Improvisationsszene. Sharp nimmt die Bassklarinette sowie selbst erfundene Instrumente in die Anordnungen mit auf. Er experimentiert mit Verstärkern und Lautstärke. Ihn interessieren die Bedingungen der Klangerzeugung selbst im Bestreben, Groove gleichzeitig erden und ausarten zu lassen.

Sharp nähert sich den Gitarrensaiten anhand der Fibonacci-Zahlen. Er stimmt sie im Verhältnis der Zahlenreihe ab und ändert seine Spielweise dahingehend. Zur Posaune greift er, um lautmalerische Klänge zu integrieren. Das Debütalbum von Carbon auf Sharps eigenem Label zOaR Records konfrontiert sein Spiel auf diversen Instrumenten mit dem eines Trompeters und dem forcierten Groove dreier Schlagzeuger. Die Klangphilosophie von Carbons Live-Auftritten stellt auch das Gerüst für „Void Coordinates“. Kaum bearbeitet, führen acht Titel von Elementarteilchen zu Stadien der Erdgeschichte über Organismen und vierdimensionale Würfel. In Sharps Koordinatensystem verselbständigen sich die Klänge von ihren Erzeugern zu gemeinsam pulsierenden Klangwolken.

In sich geschlossene Einheiten werden in Wiederholungen geschichtet, die Dringlichkeit des komplexen Gebildes aus kontinuierlicher Textur und unerwarteten akustischen Reibungen überträgt sich auf die Hörer. „Void Coordinates“ zwingt sich auf und belohnt den Ritt durch schroffe Landschaften mit läuternder Wirkung.

Für Sharp selbst werden die Songs zur zweiten Natur, natürliche Phänomene dienen ihm als Modell, um Zufall und Chaos in Strukturen auszuspielen und weiterzutragen. Folgerichtig zeigt das Albumcover die Fraktale einer verwüstenden Fläche vor selbstähnlichen Gesteinsschichten. FRANZISKA BUHRE