Die afghanische Teilung

Während im Norden langsam die Infrastruktur wiederaufgebaut wird, wächst im Süden vor allem der Einfluss der Taliban

VON BERNARD IMHASLY

Skeptikern, die vor der zunehmenden Destabilisierung Afghanistans durch die Re-Talibanisierung im Süden warnen, werden gern der erfolgreiche Wiederaufbau und die sichere Lage im Norden und in der Hauptstadt Kabul vor Augen geführt. Doch auch im Norden mehren sich Übergriffe auf die internationalen Truppen. Erst am vergangenen Wochenende kam es nordöstlich von Kabul zu schweren Kämpfen zwischen Nato-Truppen und Taliban. Auch aus Kabul heißt die Lagebeschreibung weiterhin: „Nicht ruhig und nicht stabil.“

Immer zahlreicher werden die Warnungen vor einer militärischen Niederlage der fremden Truppen im Land. So verwies jüngst der deutsche UN-Sondergesandte Tom Königs darauf, dass der Konflikt zwar nicht allein militärisch zu gewinnen sei, dass die Nato aber „eine gewaltige militärische Anstrengung“ unternehmen müsse, um eine Niederlage zu verhindern. Zuvor hatte sich der Nato-Kommandeur in Afghanistan, General Richards, wiederholt zu Wort gemeldet. Erst forderte er mehr Entwicklungshilfe, dann mehr Truppen. „Ich habe nicht genug, um, sagen wir mal, in sechs Monaten gewinnen zu können“, klagte Richards kürzlich. Soll heißen: Uns steht das Wasser bis zum Hals.

Die Taliban hatten einst leichtes Spiel, weil ausbeuterische und untereinander verfeindete Warlords das Land nach der Vertreibung der Sowjets wieder ins Chaos gestürzt hatten. Heute ist in Kabul zwar eine international anerkannte Regierung installiert, die durch Wahlen und „Dschirgas“ (Versammlungen) auch nationale Legitimität erwarb. Sie erhält Rückenstärkung durch großzügige Entwicklungshilfe und eine militärische Schutztruppe. Doch die personelle Besetzung der Regierung, die die alten Warlords wieder an die Macht brachte, könnte dafür sorgen, dass sich Geschichte wiederholt. Weder wurden ihre Milizen entwaffnet, noch wurde ihre Haupteinnahmequelle, der Opiumhandel, unterbunden, noch wurden Erfolge im Kampf gegen die grassierende Korruption erzielt.

Die anfängliche Popularität der amerikanischen „Befreier“ wurde zudem rasch durch die Invasion in den Irak erschüttert, die vor allem unter den sunnitischen Paschtunen im Süden Afghanistans als Krieg gegen den Islam empfunden wurde. Das ermöglichte es den islamischen Gotteskriegern, im Volk wieder eine gewisse Legitimität zurückzugewinnen, die sie in fünf Jahren Schreckensherrschaft verspielt hatten. Und sie waren rasch wieder zur Stelle, denn das islamistische Netzwerk im Nachbarstaat Pakistan und dessen Unterstützung durch Teile von Staat und Armee hatte weiterhin Bestand.

Auch die Taktik der zweiten Taliban-Generation war von den Ereignissen im Irak inspiriert. Erstmals tauchten Selbstmordattentäter auf, die auch Zivilisten zur Zielscheibe erklärten. Die rasche Zunahme der Selbstmordattentate auf über 90 in diesem Jahr lässt sich auf die drei entscheidenden Antriebskräfte zurückführen: Geld aus dem Drogenhandel, Waffen- und Munition aus Pakistan sowie die erhöhte Bereitschaft zum Märtyrertod wegen der amerikanischen Irakpolitik. Ohne diese finanzielle, logistische und ideologische Rückendeckung wären die zwischen 3.000 und 5.000 Kämpfer starken Taliban heute längst aufgerieben.

Selbstmordattentate und die Zunahme der militärischen Engagements haben auch die internationalen Truppen zur Änderung der Strategie gezwungen. Statt den Süden zu „befrieden“ und dann ihre Truppenstärke zu verdünnen, sahen sich die USA gezwungen, die Antiterrortruppe auf 20.000 Mann aufzustocken und diese ausschließlich entlang der Grenze zu Pakistan einzusetzen. Die Einsatzgebiete der Nato-geführten Schutztruppe Isaf wurden auf Gebiete im Osten und Süden ausgeweitet, wo zuvor nur Amerikaner und Briten im Rahmen ihrer Operation „Enduring Freedom“ Taliban jagten. Seitdem steigen die Verluste für die Nato und sinkt die Akzeptanz ihrer Soldaten bei den Afghanen. Die frühere Trennung zwischen nicht kämpfender Schutztruppe (Isaf) und kämpfenden „Enduring Freedom“-Teilnehmern gibt es nicht mehr. Die jüngsten Operationen im Süden, die immer mehr Zivilisten das Leben kosten, sorgen nicht für Vertrauen, sondern für die Wahrnehmung aller fremden Soldaten als Besatzer.

In mehreren großangelegten Operationen wurden zwar Taliban-Nester aufgespürt und Kampfverbände vernichtet. Dennoch gelang es den Gotteskriegern mit einem nicht versiegenden Nachschub an Waffen und Kämpfern, die Nato-Kontingente immer wieder in die Enge zu treiben. Selbst die Aufstockung auf 31.000 Mann wird es der Truppe nicht gestatten, das gesäuberte Territorium zu konsolidieren.

Die größere Stabilität im Norden und in der Hauptstadt Kabul erlaubten dort zumindest einen teilweisen Wiederaufbau der Infrastruktur. Nur wenn die Bevölkerung ein Interesse an deren Erhalt entwickelt, kann es gelingen, eine Infiltration der Taliban in den nichtpaschtunischen Provinzen zu verhindern. Dies ist auch die Hoffnung des deutschen Kontingents im Norden des Landes, wo die Taliban schon in den Neunzigern nie Fuß fassen konnten. Ethnische Gegensätze garantierten, dass die lokale Unterstützung gering blieb. Ein großer Teil der 2.800 Bundeswehrsoldaten ist daher im Wiederaufbau und dessen militärischem Schutz engagiert. Der Sympathiebonus wirtschaftlicher Entwicklung sorgt für Informationen aus der Bevölkerung, und deren nachrichtendienstliche Auswertung kann den Aufbau einer Guerilla-Organisation verhindern.

Wegen der Stammesunterschiede schlagen aber auch die Fortschritte im Norden und Westen kaum auf den Süden durch. Die militärische Option bleibt dort kurzfristig die einzig mögliche. Zugleich weiß die Nato, dass am Ende nur nichtmilitärische Alternativen den Sieg über die Taliban bringen werden. Wenn es nicht gelingt, aus diesem Dilemma herauszukommen, droht Afghanistan die Spaltung. Das hätte nicht nur furchtbare Konsequenzen für die Afghanen im Süden, sondern auch für Pakistan. Dessen große Paschtunen-Minderheit stellt ein Fünftel der Armee – und hat den Traum von einem unabhängigen Paschtunistan noch nicht aufgegeben. Dies zeigt nicht zuletzt die afghanisch-pakistanische Grenze: Für die Taliban ist sie eine Fiktion – für die Nato eine unüberwindbare legale Hürde.