Die heimliche Mauer

25 JAHRE MAUERFALL Fotos, die es gar nicht geben durfte: Mit „Ost-Sicht. Verbotene Blicke“ zeigt die Stiftung Berliner Mauer private Aufnahmen von der Mauer an der Bernauer Straße – aus DDR-Perspektive

Im Bildgedächtnis der Stadt wird die Mauer bis dato vom „West-Blick“ beherrscht

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Christine Bartels wohnte in der Brunnenstraße 47, Berlin, Hauptstadt der DDR. Der Blick zur Straße war eher grau. Dafür hatte Bartels freie Sicht nach hinten raus, schaute sie doch vom zweiten Stock auf die abgeräumten Mauergrundstücke entlang der Bernauer Straße. Der Todesstreifen lag vor ihr, und die Mauer. Dahinter im Westen Wedding. Bartels fotografierte von ihrem Schlafzimmer aus heimlich die Grenzanlagen und die weiß getünchte Betonmauer – Zeugnisse einer Berliner Terra incognita, die so gar nicht den bunten Mauerbildern aus Westberliner Perspektive entsprechen.

„Ost-Sicht. Verbotene Blicke“ nennt die Stiftung Berliner Mauer eine neue kleine Ausstellung bislang unbekannter Fotografien aus den 1960er und 1970er Jahren, die medial Neuland betreten. Zum einen sind es allesamt privat geschossene, schnelle, aus dem Versteck geknipste Bilder, die, von Osten aufgenommen, die Hinterlandmauer, die Sperranlagen und den tristen Mauerstreifen an der Bernauer Straße dokumentieren. Manche Aufnahmen sind verschwommen oder verwackelt, andere überbelichtet. Personen sind kaum auszumachen. Dafür sieht man immer wieder dieses „Monstrum aus Beton und Stacheldraht, den leeren Raum einer quasi unbekannten Grenze, die gefährliche Weite“, wie Detlef Peuker, einer der Fotografen, zur Eröffnung der Schau im Besucherzentrum der Stiftung sagte.

Zum anderen liegt die Sprengkraft der Schwarz-Weiß-Aufnahmen sowohl in den Motiven als auch in den Umständen für die Menschen, die die Fotos gemacht haben. „In der öffentlichen Bilderwelt vor 1989 gab es solche Bilder im Osten nicht. Darum sind sie Solitäre, Raritäten und wichtige Dokumente für uns, die zudem einen Perspektivewechsel möglich machen“, betonte Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung. Denn im „Bildgedächtnis“ der Stadt werde die Mauer bis dato vom typischen „West-Blick“ beherrscht. Jetzt, 25 Jahre nach deren Fall, sei es an der Zeit, diese einseitige mediale Perspektive zu drehen und per „Ost-Sicht“ zu erweitern.

Was richtig ist: Denn bis auf die Fotos von Detlef Matthes aus den 1980er Jahren mangelt es an historischen Bilddokumenten von der Ostseite der Mauer.

Mit der kleinen Auswahl der Fotos verweist die Ausstellung auch auf ein Manko, dem alle Produzenten unterworfen waren: Mauerfotos aus Richtung Osten gibt es sehr selten, weil das private Fotografieren der streng bewachten DDR-Grenzanlagen dort verboten war. Zudem konnte angesichts von Wachtürmen und Grenzpatrouillen vor Ort nicht jeder mit einer Kamera herumhantieren. Das SED-Regime wollte keine Zeugnisse des „Schutzwalls“; wer ihn ablichtete, wurde verhaftet.

Ihre Schnappschüsse, berichteten Bartels und Peuker, wurden deshalb nicht nur heimlich gemacht, sondern auch privat oder von wirklich verlässlichen Freunden entwickelt. Bartels: „Oft wurden sogar alle Negative vernichtet.“ Auf jeden Fall versteckte man die Bilder und zeigte sie nicht öffentlich herum.

Emotionale Porträts

Neben den Fotos von Bartels und Peuker, der in den 1960er Jahren mehrfach aus Jena nach Berlin reiste und die Mauer zur „Fluchtvorbereitung“ fotografierte (und sie schließlich auch nahe der Oderberger Straße überwand), sind auch Aufnahmen von Regine Hildebrandt, Bürgerrechtlerin in der DDR und spätere SPD-Politikerin in Potsdam, in der Ausstellung dabei. Hildebrandt wohnte bis Ende 1961 an der Bernauer Straße 4. Sie fotografierte ihren Mann Jörg, Pfarrer der 1985 gesprengten Versöhnungskirche, und ihren Bruder Herbert, die aus dem versperrten Haus aus dem Fenster in den Westen blicken. Hildebrandt fotografierte auch Westberliner Freunde, die von der Bernauer Straße zu der Fotografin hochschauen – mit melancholischem, fernem Abschiedsblick.

Im Unterschied zu den klaren Abbildern von Stadtzonen (Peuker) oder der schlichten, sehnsüchtigen Dokumentation (Bartels) sind Hildebrandts Bilder sehr persönliche und emotionale Porträts ihrer Freunde jener Jahre, in deren Gesichtern sich der Mauerbau spiegelt.

Dass sich die Stiftung Berliner Mauer von der Ausstellung auch erhofft, andere private Fotografen zu animieren, ihr Archiv öffentlich zu machen, ist evident. Angesichts des heutigen Anspruchs der Gedenkstätte an der Bernauer Straße, die Perspektiven auf die Mauer und die Sicherungsanlagen insgesamt zu erweitern, stellt sich die provozierende Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, neben den privaten Ost-Sichten auch die offiziellen Bilder von Grenzpolizei, Stasi oder NVA einzubeziehen. Sicher, deren fotografischer Blick ist einer aus politischer, ideologischer und funktionaler Perspektive. Aber gehört nicht wie die heimliche und spontane Aufnahme auch die propagandistische Sicht zum „Gesamtbild“ einer Mauerrezeption?

■ „Ost-Sicht. Verbotene Blicke“. Gedenkstätte Berliner Mauer, Bernauer Str., 119. Bis 30. 9., Eintritt frei