Gesichter lesen

KÖRPERTHEATER Choreografie für Nasenflügel und Augenbrauen: „For Faces“ von Antonia Baehr im HAU 3 als Schule der Wahrnehmung

Im Innern der Performer aber scheint ein ganzer Film abzulaufen, von dem wir nur aus ihren Mienen erfahren

Es war in den sechziger Jahren, als der polnisch-französische Konzeptkünstler Roman Opalka damit begann, nach jedem Arbeitstag sich selbst zu fotografieren, in immer gleicher Haltung, ohne offensichtliche Regung und vor der Leinwand, an der er an diesem Tag gearbeitet hatte. Seit mehr als vierzig Jahren ist er von diesem Konzept, das bis ans Ende seines Lebens reichen soll, nicht abgewichen. In Poznań hatte er dieses Jahr eine große Retrospektive, und selbst im Katalog noch kann man es verfolgen: Die Erfahrung, einem Menschen über einen so langen Zeitraum ins Gesicht zu sehen, ist ungewöhnlich und beeindruckend.

Dass man nicht darin geübt ist, ein Gesicht auch nur zehn Minuten lang zu betrachten und zu studieren wie eine unbekannte Landschaft, verdeutlicht das Stück „For Faces“, das am Wochenende im HAU 3 lief. Konzipiert hat es Antonia Baehr, die sich als Choreografin auf die Ausdrucksmittel der Mimik konzentriert. Bekannt wurde sie vor zwei Jahren mit einem Stück über das Lachen. „For Faces“ hat sie mit drei Frauen und einem Mann entwickelt, die keine professionellen Schauspieler sind, als Musiker und Künstler aber viel unterwegs im Feld experimenteller Performance. Die vier sitzen im Zentrum eines Kreises von Zuschauern. Von Anfang an fühlt man sich dabei wie ein Teilnehmer einer Studie gefordert, die auf Genauigkeit und Detailreichtum dort abzielt, wo man gewohnheitsmäßig summarisch wahrnimmt. Jetzt bloß aufpassen und keinen Hustenanfall kriegen.

Sabine Ercklentz, Andrea Neumann, Arantxa Martinez und William Wheeler sitzen unauffällig gekleidet auf Drehhockern und schauen das Publikum anfangs so unbewegt an wie Opalka in seiner Porträtserie. Die Minuten ziehen sich, bis man die erste minimale Wendung der Blickrichtung wahrnimmt, ein Weiten der Pupillen vielleicht und ein Eindringen der äußeren Bilder. Was folgt, möchte sich sozusagen wie auf einem von allen Erwartungen entleerten Blatt eintragen, ein Grundkurs in Beobachtung und Konzentration. Eine strenge Übung.

Augen, die wandern, Augenbrauen, die sich heben und verengen, Nasenflügel, die sich weiten, fragende, erstaunte, verlegen, abwesende, abweisende Blicke: Die erst so stillen Gesichter führen dann Geschichten des Zuhörens auf, der Reaktionen und Spiegelungen, der unbewussten und der absichtsvollen Mimik. Als Zuschauer im Kreis sehen wir einen der vier frontal, zwei im Profil, vom vierten nur den Hinterkopf. Diese Anordnung ändert sich nicht, es fällt kein Wort, die Hände der vier bleiben auf ihren Knien liegen. Im Innern der Performer aber scheint ein ganzer Film abzulaufen, von dem wir nur aus ihren Mienen erfahren. Nicht dramatisch zugespitzt, nicht expressiv verzerrt, sondern in jenem gewöhnlichen Ausmaß, das im Alltag immer unterhalb der Schwelle bewusster Wahrnehmung bleibt.

Erst im letzten Teil des knapp einstündigen Abends kommen kleine Geräusche dazu, Überschreitungen des Normalen, eine Ausweitung ins Fantastische und Groteske. Die Erleichterung des Publikums, auch mal lachen zu dürfen, ist nach der Anspannung zuvor ziemlich groß.

Der Minimalismus und die Geradlinigkeit des Konzepts von Baehr sind sehr konsequent durchgeführt. Es entsteht eine Form abstrakten Theaters, ein Herauslösen eines Elements der täglichen Kommunikation aus allen Kontexten, um es genauer zu studieren und in seiner Vielfältigkeit wie einen Schatz auszubreiten. Aber diese Anordnung führt etwas zu prätentiös die besondere Sensibilität des Künstlers vor; sein Expertenwissen füllt einen blinden Fleck in unserer aller Normalität. Das hat etwas Didaktisches und zugleich wenig Lässiges, so als würde man dem Fast-Food-Konsumenten beibringen wollen, 35 Kräuter am Geschmack zu erkennen.

KATRIN BETTINA MÜLLER