WO, WIE JETZT IN WILHELMSHAVEN, EIN GEWALTOPFER NICHT WENIGSTENS EIN KLITZEKLEINES BISSCHEN MITSCHULDIG ZU MACHEN IST, BRAUCHT DER MOB EINEN ÜBERGEORDNETEN SCHULDIGEN
: Die Wut muss umgeleitet werden

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Brutal zusammengeschlagen worden ist ein Mädchen in Wilhelmshaven. Das Mädchen war vierzehn Jahre alt, die vermutlichen Täter zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre. Das Zusammenschlagen wurde mit verschiedenen Handys gefilmt und ins Netz gestellt. Es gab offenbar mehrere Unbeteiligte, die aber doch beteiligt waren, filmend, sehend, nicht helfend. Die Tatsachen sind traurig, man kann sich vieles fragen, zum Beispiel: Wie kann ein junger Mensch so fühllos sein? Und was soll aus so jemandem werden, wenn er irgendwann seine Strafe erhalten hat und wieder ins Leben tritt? Denn durch eine Strafe wird ja niemand befähigt, künftig anders zu fühlen, überhaupt zu fühlen.

Das ist das eine Problem und das andere sind die, die dabei waren, die Mittäter und die Handyfilmer. Wenn einer nicht zutiefst erschüttert ist von solcher Gewalt und stellt sich hin und filmt und sonst nichts, kein Zittern und kein Weinen, kein Ruf nach Hilfe: Wie weit ist er dann selbst davon noch entfernt, jemanden gegen den Kopf zu treten?

Wenn in der öffentlichen Wahrnehmung etwas eindeutig Böses geschieht, wenn es sich um ein Opfer handelt, das in dieser Wahrnehmung nur Opfer ist und nicht gleichzeitig auch noch auf irgendeine Weise – nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer mit Vorurteilen angefeindeten Gruppe – ein bisschen mitschuldig sein muss, dann wird außer dem Täter, den Täterinnen, vom Mob auch noch nach einem übergeordneten Schuldigen gesucht. Die Kuscheljustiz ist ein beliebter Schuldiger.

Die Kuscheljustiz steht für den Staat, und der Staat sind nicht etwa wir hier, wir Deutschen, die wählen und ihren Beruf als zum Beispiel Staatsanwalt oder Polizist ausüben, sondern der Staat sind irgendwelche Anderen, zu denen auch die (rotgrüne System-)Presse gehört. Ein imaginäres, verschwörend agierendes Machtbündnis, das in dem Kopf jedes Wutbürgers anders aussieht, das aber in den Kommentarspalten einvernehmlich verantwortlich zählt für fast alles, was den Leuten nicht passt.

In Wilhelmshaven ist jetzt einer der vermutlichen Täter festgenommen worden. Die Polizei sammelt Beweise und untersucht den Fall. Es wird zu einem Prozess kommen und dann zu einem Urteil. Das Urteil wird dem Wutbürger nicht gefallen, denn dem Wutbürger gefällt nie ein Urteil.

Der Wutbürger würde am liebsten selbst all die Taten ausüben, die ein Verbrecher ausübt, und zwar am Verbrecher. Der Wutbürger würde gerne vergewaltigen, misshandeln und töten oder wenigstens lebenslänglich bei Wasser und Brot ins Gefängnis stecken. Sobald es aber die eigene Klicke und das eigene Interessengebiet, die eigene Familie oder den eigenen Strafzettel angeht, da, so ist der Wutbürger überzeugt, urteilen der Staat und die deutsche Justiz überzogen und zu streng.

Was ich allerdings verstehe, ganz allgemein und überhaupt, das ist die Wut. Sie muss sich nur in etwas Konstruktives wandeln. Ein Siebzehnjähriger, der ein vierzehnjähriges Mädchen auf den Kopf tritt, der ist kaputt, der fühlt nicht mehr, was ein Mensch, wenn er ein Mensch ist, fühlen sollte, weil ihn das zum Menschen macht. Die Wut gegen ihn ist nutzlos. Er kann nur noch gerecht verwaltet werden, indem er nach seiner Verfehlung bestraft wird, aber das wird ihn nicht ändern. Die Wut muss woanders hingeleitet werden. In Aufklärung, in Erziehung, in öffentliche Diskussion. Man muss ja irgendwie sehen, dass man die Welt besser macht.

In Wilhelmshaven ist ein Flashmob organisiert worden, das klingt vielleicht ein bisschen naiv, aber das ist es gar nicht. Es geht etwas von so einer Aktion aus, jedenfalls die, die da mitmachen, die Jugendlichen und die Kinder, die haben das dann ein bisschen in sich drin, die verhalten sich vielleicht in einer ähnlichen Situation anders und filmen nicht, sondern rufen mit ihrem Handy die Polizei. Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen