Kaum in Deutschland, schon Schimanski?

ASSIMILATIONSWUNDER Fast zwei Millionen Menschen aus Polen leben heute bei uns. Doch in der deutschen Öffentlichkeit sind sie praktisch unsichtbar. Vielleicht, weil sie immer schon da waren?

Zwei stark betrunkene Männer torkeln in ein Berliner U-Bahn-Abteil. Dem Inhalt ihrer Plastiktüte nach weisen sie sich als Anhänger starker polnischer Getränke aus. Sie pflegen auch die polnische Sprache, wobei sie sich schnell auch als Anhänger starker Worte zu erkennen geben, indem sie den U-Bahn-Waggon mit einem derart vulgären und beleidigenden Wortschwall füllen, dass ich mich glücklich fühle, sie als einziger der rund zehn U-Bahn-Passagiere zu verstehen.

Die beiden Betrunkenen verlassen das Abteil bereits nach einer Station. Kaum sind sie zur Tür hinaus, brechen die anderen Fahrgäste ihr Schweigen, und plötzlich stellt sich heraus: alle im Abteil sind Polen! Bald verwandelt sich die schweigsame U-Bahn-Fahrt in ein anregendes Gespräch über Verbindendes und Trennendes der gemeinsamen Herkunft.

Durch solche Zufallsereignisse finden Polen in Deutschland zueinander – oder in Zeiten großer Tragödien, zuletzt etwa nach dem Absturz der Präsidenten-Tupolew bei Smolensk. Ansonsten verspüren wir Polen mehrheitlich keinen Drang zur Gemeinschaftsbildung: Wir bilden keine polnischen Stadtteile, treffen uns nicht in polnischen Gaststätten, spielen nur selten in polnischen Fußballvereinen.

Wir hocken nicht gern aufeinander, sondern bleiben eher auf Distanz – manche, die Erfolgreichen, aus Angst vor dem neidischen Blick und der Missgunst der Nachbarn. Andere, wie die unzähligen Bauhelfer und Putzfrauen mit Hochschulabschluss, aufgrund des unguten Gefühls, auf dem Weg zum gemäßigten Wohlstand die eigenen Träume verraten oder den früheren gesellschaftlichen Status verloren zu haben. Und wieder andere, wie manch ein Spätaussiedler, wegen des unguten Gefühls, den Umzug nach Deutschland gerade jenem Teil der Identität zu verdanken, der im Polen der Nachkriegsjahrzehnte kein Grund zum Stolz sein konnte: weil einer der eigenen Vorfahren einst zum Volk der Dichter und Henker gehörte.

Erst langsam verschwinden diese Geister und Plagen der ersten Jahre in Deutschland. Nach und nach zeigen sich in der Öffentlichkeit Menschen aus Polen, die selbstbewusst ihren eigenen Weg gehen: als Künstler, Sportler, Unternehmer, Journalisten, ja inzwischen auch als Politiker. Sie bezeichnen sich als Polen, Deutschpolen, manche gar als „polnische Versager“ (wie der gleichnamige Club in Berlin) oder „Kosmopolen“. Meist sind sie jung, oft besitzen sie zwei Staatsangehörigkeiten und eine doppelte Identität, was in Deutschland wie in Polen noch immer gelegentlich Misstrauen weckt. Beides – sowohl diese Doppelidentität wie auch das doppelte Misstrauen, das sie begleitet – gehören seit Jahrhunderten zu den Konstanten in den weiten deutsch-polnischen Grenzräumen.

Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist Polen ein Auswanderungsland. Die Zahl der Polen, die im Ausland leben, wird heute auf bis zu zehn Millionen geschätzt – bis zu einem Fünftel davon lebt in Deutschland. Der ausgeprägte Anpassungswillen vieler polnischer Auswanderer ist legendär – etwa nach dem Prinzip „kaum in Deutschland, schon Schimanski“. Er geht aber auf die Erfahrungen vieler Auswanderergenerationen vor ihnen zurück.

Als wichtigstes Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg wird in vielen polnischen Familien die Bildung gesehen. Dass dies mit dem Integrationsideal der deutschen Politik übereinstimmt und zudem eine relative kulturelle Nähe herrscht („wir sind uns näher, als es manchem gefällt“), all das hat zur Folge, dass es in den Bereichen, die heute in Deutschland als Gradmesser der Integration angesehen werden, wenig Konfliktpotenzial gibt. Und wo es keine Konflikte von medialer Relevanz gibt, da schaut man auch nicht hin.

So müssen die Polen in Deutschland zwar mit einigen unsterblichen Vorurteilen leben. Ansonsten sind sie in der – aus historischer Sicht wohl selten glücklichen – Lage, nicht in aller Öffentlichkeit, unter dem Druck von Wahlkämpfen und wechselnden „Integrationsmaßnahmen“, über Fragen der eigenen Identität verhandeln zu müssen.

Gute Voraussetzungen für freie, persönliche Entscheidungen schafft auch Polens EU-Mitgliedschaft und die politische Annäherung beider Heimatländer. Und manch ein Zuwanderer aus den Achtzigerjahren hat im Zuge dieser Entwicklung seine Entscheidung, nach Deutschland zu ziehen, sogar wieder revidiert.

■  Jacek Tyblewski, 45, ist Redakteur bei Funkhaus Europa, WDR