So sieht unser Pflegealltag aus

„Die Nähe zu den Patienten ist in der ambulanten Pflege größer als im Krankenhaus. Das zerrt an den Nerven“

Solange es draußen nicht friert, steht ihr Fenster offen. Wenn der Staub von den Bauarbeiten auf der Straße in ihr Zimmer drängt, dann weiß sie, dass die Welt da draußen noch immer funktioniert. Nichts hat sich geändert. Das ist beruhigend. Denn die Welt hat sie seit zwölf Monaten nicht gesehen. Seitdem liegt Gertrud Langer in ihrem Schlafzimmer im Pflegebett. Nur einmal in der Woche verlässt sie es. Dann wird sie von Michael Dehl oder einem anderen Angestellten der Berliner Pflegestation „Kramer & Kramer“ in den Rollstuhl gehievt, ins Bad geschoben und in die Wanne gesetzt. Von dort aus sieht die 81-Jährige dann den Hinterhof.

Vor einem Jahr war es aus. Sie wollte gerade ihre Wohnungstür hinter sich zuziehen, um einkaufen zu gehen, da knickte ihr Bein einfach weg. Gertrud Langer schlug lang hin. Seitdem ist sie eine von zwei Millionen Frauen und Männern in diesem Land, die ambulant gepflegt werden. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte Muskelschwund. Das hat mit ihrer Arbeit früher zu tun. Über vierzig Jahre hat die Schneiderin am Zuschnitttisch gestanden, Drei-Schicht-System, nur zwei Pausen am Tag. Die Ärzte im Krankenhaus sagten ihr, dass sie nie wieder würde laufen können. Was das hieß, war Gertud Langer sofort klar, sie ist ja noch sehr fit im Kopf: Pflege bis ans Lebensende. „Bis auf das Bein“, sagt sie, „bin ich kerngesund.“

Neben ihrem Bett, auf einem kleinen Tisch, stehen in Reichweite Thermoskanne mit Tee und eine Tasse Kaffee, eine Schachtel Pralinen, ein Pfannkuchen, daneben ein Stapel Zeitschriften, die Fernbedienung für den Fernseher und das Telefon. Auf einem Stuhl ruht eine grüne Styroporbox, die das schon am Morgen gelieferte Mittagessen warm hält, obendrauf steht der Teller mit den Frühstücksbroten. Wurst, Käse, Marmelade, Wiener.

Gertrud Langer hat die Pflegestufe 2, dafür gibt es monatlich bis zu 921 Euro von der Pflegekasse. Damit kann der Patient einen Pflegedienst bezahlen. Gertrud Langer bekommt 200 Euro weniger, deshalb kann sie die Leistung nicht vollständig bezahlen, die sie jetzt in Anspruch nimmt. Zwei Mal am Tag kommt jemand von Kramer & Kramer vorbei, der sie wäscht, ihr Frühstück und Abendbrot macht, einkauft, putzt, einmal in der Woche wird sie gebadet und frisiert. Im Oktober hat sie dafür 875 Euro bezahlt.

Früher schaute auch mittags noch jemand vorbei, den hat sie aber schnell wieder abbestellt. Sie kriegt 1.044 Euro Rente, davon zahlt sie 534 Euro Miete, 150 Euro für Strom und Gas. Alles andere – Telefon, GEZ, Versicherungen, die Pralinen – kann sie sich nur leisten, weil sie ein bisschen was gespart hat. „Wenn das aufgebraucht ist, darf es mich nicht mehr geben“, sagt sie. Sie meint das eher scherzhaft. „Es wird ja nicht besser, wenn ich jammere. Ich langweile mich nicht, ich lese, höre Radio und schaue fern.“

Manchmal telefoniert Gertrud Langer mit ihrer Freundin. Die ist über 90 und kann auch nicht mehr laufen. Außer den Leuten von der Hauskrankenpflege kommt niemand mehr zu ihr. Sie war nie verheiratet und hat keine Kinder. „Anderen geht’s doch viel schlimmer“, sagt sie, die hätten Schmerzen oder könnten nicht mehr richtig essen. „Ich vertrage alles und freue mich jetzt auf meinen Pfannkuchen.“ Den Kaffee trinkt sie mit Strohhalm. Und das sei, sagt sie, ja nun wirklich nicht schlimm. SIMONE SCHMOLLACK

Michael Dehl hat schwer zu tragen. Zwei dicke Schlüsselbunde baumeln um seinen Hals. Sie verschaffen ihm Zutritt zum Leben anderer Menschen, auch zu Gertrud Langers. An fünf Tagen der Woche steigt der Berliner kurz vor sieben Uhr in den weißen Twingo mit der knallroten Aufschrift „Ambulante Hauskrankenpflege Kramer & Kramer“. Bis 13 Uhr fährt er seine Runde am Vormittag, der Spätdienst beginnt um drei und dauert bis abends um neun. 30 Stunden in der Woche macht er das.

Am Ende seiner Schicht hat der 29-Jährige neun Frauen und zwei Männer versorgt. Er hat Verbände gewechselt, Tablettensets bestückt, Spritzen gesetzt, eine Dame gewaschen, eine andere gebadet, Frühstück bereitet und Kaffee gekocht. Mit einigen hat er geredet, mit anderen geschwiegen, manchmal auch gelacht. Bei der dementen Frau S. war er zwei Minuten. Er hat ihr Pillen verabreicht und die Fenster geöffnet. Frau M. hat er das offene Bein gesalbt und frisch verbunden, zehn Minuten. Herrn P., dem Krebspatienten, die Bauchbinde erneuert. Gertrud Langer geduscht, danach Frühstück gemacht, Dreiviertelstunde. Die Zeit ist knapp und der Pfleger hat seinen Plan. Den muss er schaffen. Braucht er irgendwo länger, muss er sich fragen lassen, warum. Aber Michael Dehl ist schnell.

Pfleger sind in der Regel besser strukturiert als Pflegerinnen, sagt man in der Branche. Frauen neigen eher als Männer zum Helfersyndrom. Sie lassen sich zu Diensten überreden, die nicht zu ihren Aufgaben gehören. Auch Michael Dehl hört öfter mal so eine Bitte: „Könnten Sie nicht noch zum Bäcker gehen? Und mit dem Hund raus?“ Nur manchmal sagt er zu.

„Möchten Sie sich untenrum selber waschen oder soll ich?“ fragt Michael Dehl die 71-jährige Frau P. „Ich mach schon“, antwortet sie. Andere bitten darum, dass der Pfleger das tut. Wenn der ihnen zwischen die Beine fährt, sind das professionelle Handgriffe, Routine, wie das Desinfizieren der Schläuche einer Magensonde oder das Wechseln eines Urinbeutels. Einer Patientin, die nur noch die Augen bewegen kann, leert er den Darm. Er bekommt 1.600 Euro brutto für seine Arbeit. Michael Dehl dringt in das Intimleben von Frauen und Männern ein. „Die Nähe zu den Patienten ist in der ambulanten Pflege größer als im Krankenhaus“, sagt er. Damit rückt aber auch das Leid dichter heran. „Mitunter zerrt das an den Nerven.“ Viele seiner KollegInnen müssen sich öfter mal richtig auskotzen. Das passiert Dehl nicht allzu häufig, er ist noch jung.

Er wird sauer, wenn jemand sagt: „Du wischst also alten Leuten den Arsch ab.“ Dann denkt er an Leute wie Herrn N., der seit 18 Jahren seine 72-jährige Frau pflegt. Herr N. strahlt, wenn Dehl zur Tür hereinkommt. Wenn alles getan ist, trinken sie gemeinsam Kaffee. Das sind „private“ Minuten. Aber der Pfleger nimmt sie sich, denn er weiß, wie sehr Herr N. sie braucht. Manchmal denkt Michael Dehl daran, dass auch er mal alt sein wird. Seine Frau ist jetzt zum zweiten Mal schwanger. SIS

Martin Kramer ist so etwas wie der Porsche unter den Chefs. Alles, was er von Michael Dehl und seinen anderen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen fordert, verlangt er zunächst von sich selbst. Er ist einer der Geschäftsführer einer Pflegestation, der nicht nur im Büro sitzt, Dienstpläne und Abrechnungen schreibt, anweist, kontrolliert und ansonsten kluge Reden hält. Martin Kramer fährt immer noch selbst.

So heißt das im Pflegefachjargon, wenn jemand Patienten betreut. Zu ihm kommen die ganz schlimmen Fälle: Krebskranke, Todgeweihte, Dahinsiechende. Aber er kennt auch alle anderen Bedürftigen in seiner Kartei und weiß genau, woran sie leiden. Mit geschlossenen Augen könnte er durch die Wohnung von Gertrud Langer gehen, er würde nicht anecken.

Martin Kramer ist kleiner als eine durchschnittsgroße Frau und hat eine weiche Tenorstimme. Er kann aus dem Stegreif alle Kosten für Pflegeleistungen herbeten. Das ist nicht verwunderlich, er hat täglich damit zu tun. Seit Jahren streitet er sich mit Sozialämtern, Pflegekassen, Krankenhäusern. Wenn es sein muss, geht er vor Gericht. Als Leiter der Berliner Pflegestation „Kramer & Kramer“ hat er Probleme, die er nicht lösen kann. Die fangen bei den Pflegezeiten an und hören bei den Kosten auf. Wie lange er und seine Kollegen für bestimmte Handgriffe benötigen dürfen, ist nirgendwo genau festgelegt. So hat das Sozialamt Zeiten für verschiedene Pflegetätigkeiten vorgegeben, die Pflegekasse indes nicht. Oder das Sozialamt hat errechnet, dass eine so genannte große Reinigung – An- und Auskleiden, Waschen oder Duschen, Rasieren, Mund- und Zahnpflege, Kämmen – 40 Minuten dauert. Die Pflegekasse sagt, die große Reinigung dauert so lange, wie sie dauert. Jede Abrechnung ist ein Vabanquespiel.

„Frau Langer müsstePflegestufe 3 bekommen. Aber das erklären Siemal der Kasse!“

Oder die Bezahlung. Das Sozialgesetzbuch XI legt so genannte Leistungskomplexe fest, nach denen die Kosten berechnet werden. So werden für „An- und Auskleiden im Zusammenhang mit dem Verlassen der Wohnung sowie Hilfe beim Treppensteigen“ 2,88 Euro berechnet, für die „kleine Reinigung der Wohnung“ – Aufräumen, Abwaschen, Lüften, kleine Handreichungen, Blumenpflege, Briefkasten leeren – 3,71 Euro veranschlagt. Einkaufen kostet 9,89 Euro, Essenmachen 3,71 Euro.

Diese Summen reichen vorn und hinten nicht. Seit 1995 haben sich die Pflegesätze nicht verändert. Das frustriert Martin Kramer, sowohl als Dienstleister als auch als Chef. Den Patienten und ihren Angehörigen versucht er zu erklären, dass eine Pflegeversicherung nur wie eine Teilkasko ist. Seine Mitarbeiter versucht er zu motivieren, das Beste aus allem herauszuholen. Von der Gesundheitsreform erwartet er eine Erhöhung der Kostensätze.

Das nächste Problem: die Pflegestufen. Egal, welche der drei Stufen ein Patient vom Sozialmedizinischen Dienst der Krankenkassen oder vom Hausarzt zugewiesen bekommt, in den Augen von Martin Kramer sind sie stets zu knapp bemessen. Jemand, der wie Frau Langer nicht mehr allein lebensfähig ist, müsste Stufe 3 bekommen. „Aber das erklären Sie mal der Kasse!“, sagt Kramer. Außerdem: „Gespräche und andere emotionale Zuwendung sind in keinem Fall vorgesehen.“ Denn die Kassen haben den Grundsatz „Satt und sauber“.

Als aufgeklärten Mann ärgert es ihn, dass Pflege wie selbstverständlich noch immer vor allem von Frauen übernommen wird: als Ehefrauen, Töchter, Nichten und eben Pflegerinnen. 60 Prozent der Patienten, die zu Hause betreut werden, sind Frauen, das Pflegepersonal ist zu 80 Prozent weiblich. Bis vor 30 Jahren waren es ausschließlich Frauen. Martin Kramer hat 11 Männer und 30 Frauen angestellt. SIS