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Hilfe auf dem Markt

FILM Die multiperspektivische Dokumentation „Weihnachten? Weihnachten!“ von Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert

Es ist nicht der erste Neuköllnfilm, man könnte den Neuköllnfilm inzwischen schon als Genre bezeichnen, das wie jedes Genre mit bestimmten Konventionen und Aufmerksamkeitsspektakeln einhergeht. Gelegentlich werden da die skandalisierenden Stereotype dieses Stadtteils nicht nur aufgenommen, sondern weiter verstärkt.

Mit ihrem neuen Film, „Weihnachten? Weihnachten!“, beschreiben die Filmemacherin Anja-Christin Remmert und der Maler und Filmemacher Stefan Hayn den Mikrokosmos eines Weihnachtsmarkts der sozialen Dienste am Neuköllner Richardplatz. In den Blick geraten dabei die besonderen Entwicklungen der letzten Jahre, die mit einer betriebswirtschaftlichen Professionalisierung sozialer Dienste einhergehen, und die daraus folgenden Strategien der Akteure. Gedreht im Krisenwinter 2008, in dem vorübergehend bis weit ins bürgerliche Feuilleton hinein vereinfachte kapitalismuskritische Reißverschlüsse aufgezippt wurden.

Schon im Titel ihres Films treffen Fragezeichen und Ausrufezeichen gemeinsam auf das Kamellenwort „Weihnachten“. Es folgt eine einfache, schön energisch gekritzelte Kohlezeichnung mit ein paar Fingerabdrücken und Wischern: „für alle im Film“– und dies macht ein bestimmtes dokumentarisches Verhältnis klar: das zu den ProtagonistInnen. Das ist mehr als eine Geste, es ist Programm.

Auf dem Markt, den es seit fast 40 Jahren gibt, betreiben unterschiedliche „Sozialdienstleister“, viele davon Ehrenamtliche, ihre Stände. Um deren Arbeit – zum Großteil aus gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen hervorgegangen – geht es und um den Hilfebedarf der arbeitslosen, drogenabhängigen, psychisch kranken, lernbehinderten „Klienten“, wie die Hilfesuchenden heute oft bezeichnet werden. Ein Unterthema des Films ist die Frage: Was bedeutet die Ökonomisierung „sozialer Arbeit“ in Zeiten eines weit reichenden Umbaus des Sozialstaates? Von den Bismarck’schen Sozialgesetzen, die unter anderem auch die Rente ab 70 vorsahen, über die „Fürsorge“ und ihre Auswüchse bis zur heutigen „sozialen Arbeit“ ist es ein langer Weg. Bei der Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes 2003 durch das Kabinett Schröder wurde die Koppelung von Sozialstaatsgebot und Menschenwürdeschutz nicht mehr aufgenommen, mit einer Ausnahme – im Gesetzestext zur Pflegeversicherung von 1993 blieb es bei der Formulierung, man solle den Pflegebedürftigen ermöglichen, „trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.“

Der Film von Anja-Christin Remmert und Stefan Hayn konkretisiert in einem multiperspektivischen „Wimmelbild“ diese sozialpolitischen Umbrüche genauso wie Engagement und alltägliches Miteinander. Selbstverständlich darf auch der Bezirksbürgermeister Buschkowsky nicht fehlen, launig eröffnet er den Markt: „So, liebe Neuköllnerinnen, liebe Neuköllner, es ist wieder mal so weit. Es ist Freitag vor dem 2. Advent. Die Kamele sind aufgezogen, ich bin auch da.“ MADELEINE BERNSTORFF

■ „Weihnachten? Weihnachten!“. Regie: Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert. Deutschland 2009, 82 Min.

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