Der Backpackerwahnsinn

Aus Ost mach West (und umgekehrt): Eine Europareise brachte den jungen Zack Condon aus Arizona dazu, unter dem Namen Beirut sein großartig verwirrtes Debütalbum „Gulag Orkestar“ einzuspielen

VON THOMAS WINKLER

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er eine Platte machen. Und wenn der Reisende ein amerikanischer Highschool-Drop-out ist und die besuchten Länder im Osten Europas liegen, dann muss sie sich wohl so anhören, muss sich den weiten Himmel des amerikanischen Westens über die ungarische Puszta denken und sich eine verkommene Kneipe auf dem Balkan an den Rand der Route 66 imaginieren, muss jüdische Musik mit arabischen Melodien versöhnen und Emir Kusturica in die Wüste von Arizona schicken.

Denn so, wunderlich wie wundervoll, klingt „Gulag Orkestar“ (4AD/Rough Trade), das erste Album von Beirut. Hinter dem – nicht umsonst als Symbol des untergegangenen Treffpunkts zwischen Ost und West gewählten – Namen verbirgt sich der gerade mal zwanzigjährige Zack Condon. Der brachte bereits als Teenager unter dem Namen Real People zwei weitgehend übersehene Alben heraus und führt nun fort, was im Alternative Country schon einige Jahre gepflegt wird: die Erweiterung des klassischen Repertoires um neue, oft von Immigrantenströmen inspirierte Einflüsse. So verschmolzen Calexico die Americana mit mexikanischen Klängen, im wahrsten Sinne des Wortes nahe liegend bei ihrer Herkunft aus dem wenig mehr als 50 Meilen von der Grenze gelegenen Tucson.

Condon, der nun in New York lebt, stammt zwar aus dem staubigen, von Westernklischees definierten Südwesten der USA, aus New Mexiko. Er aber musste erst ein Jahr lang durch Europa reisen, und die Songtitel künden nun davon: „Bratislava“, „Postcards from Italy“, „Prenzlauerberg“, „Rhineland“, „Brandenburg“. Auch wenn die Titel den Anschein erwecken, als hätte vor allem Deutschland bleibenden Eindruck bei Condon hinterlassen, wurde die Idee zu „Gulag Orkestar“ in Serbien geboren. In einer durchzechten Nacht, so geht die offizielle Legende, brachten einige Einheimische dem jungen Reisenden die musikalischen Grundlagen des Orchesters von Boban Markovic nahe.

Zurück in Albuquerque begann Condon diese neuen Erfahrungen umzusetzen. Nicht mit Gitarre, sondern Mandoline und Klavier, Trompete, Akkordeon und Ukulele. Nur Streicher und Perkussion ließ sich Condon zuliefern, ansonsten wurde „Gulag Orkestar“ im Alleingang aufgenommen, vor allem weit weg von den üblichen Absatzmärkten von Weltmusik und damit auch unbeleckt von deren Diskursen, wie der leicht geschmacklose Albumtitel illustriert. Auch die entstandene Musik ist keineswegs musikalisch-geografisch korrekt, aber trotzdem mitunter atemberaubend, weil sie bislang unvereinbar scheinende Welten miteinander versöhnt, ohne postmoderne Beliebigkeit auszustrahlen. Plötzlich ist überdeutlich zu hören, dass die Verlorenheit eines Country-Songs von der Melancholie einer rumänischen Zigeunerhochzeit oder der Traurigkeit einer Klezmer-Melodie nicht allzu weit entfernt ist.

Condon, der nicht nur mit sechzehn Jahren die Highschool schmiss, sondern sich auch am College bereits am ersten Tag die Studiengebühren wieder auszahlen ließ, erzählt bisweilen aber auch, seine Vorliebe für osteuropäische Musik sei dem serbischen Exnachbarn seines Cousins in Amsterdam zu verdanken, der heimwehkrank laut die tragischen Weisen spielte und den Gast aus Amerika infizierte.