An der langen Leine des Jazz: Radio Citizen schaut sich nach der Zukunft um, und Till Brönner singt neue und alte Pophits

Man konnte ja allerhand lernen bei „X Factor“: Dass Culcha Candela sich mittlerweile für jeden Quatsch hergeben, dass man nicht nur Soldaten ins Bootcamp schicken kann, sondern auch Möchtegernmusiker, und dass einen schönen Mann tatsächlich nichts entstellen kann. Denn auch als Casting-Show-Juror sieht Till Brönner ziemlich prima aus. Und weil Brönner so ein Glückskind ist, gewann auch noch die vom ihm als Mentor betreute Sängerin zum Sendeschluss den Plattenvertrag.

Eine Frage wurde allerdings nicht beantwortet. Was genau ist denn nun so ein X-Faktor? Gibt es da ein deutsches Wort für? Und, am allerspannendsten: Hat ihn Till Brönner denn selbst, den berüchtigten Faktor? Als wollte Deutschlands schickster Jazz-Trompeter die Antwortfindung erleichtern, interpretiert er auf „At The End Of The Day“ Klassiker aus der Musikgeschichte von Bach bis Bowie – ganz so, als wäre er Kandidat in seiner eigenen Sendung. So ein Ausflug in die Popmusik ist für Brönner zwar nicht ungewöhnlich, hat er sich doch mit elektronischen Experimenten oder Bossa-Nova-Alben schon früher gern aus dem Jazz-Elfenbeinturm hinausgewagt. Aber neu ist: So ausführlich wie diesmal hat er sich noch nie als Sänger betätigt. Dabei ist es ihm egal, ob er ältere Songs wie „And I Love Her“ von den Beatles oder neue Hits wie „Human“ von The Killers singt: Während seine Band stets denselben geschmackvoll temperierten Klangteppich verlegt, übt sich Brönners Stimme in nobler Zurückhaltung. Das Ergebnis ist über weite Strecken Sprechgesang, der die Unterstützung seiner dramatisch gestopften Trompete als Kontrast bitter nötig hat. Das Urteil der Jury: Till Brönner macht das Beste aus seinem dünnen Stimmchen, aber ein irgendwie gearteter X-Faktor ist nicht zu erkennen. Man muss es wohl so hart sagen: Der Juror Till Brönner hätte den Sänger Till Brönner höchstwahrscheinlich aus seiner eigenen Fernsehsendung geworfen.

Auch nicht Bootcamp-verdächtig ist Niko Schabel. Was nicht daran läge, dass der Berliner Produzent mit seinem Projekt Radio Citizen nicht großartige Musik machen würde. Sondern eher daran, dass so ein kreativer Knöpfchendreher sich nun mal schlecht macht auf einer Casting-Bühne. Außerdem werden für „Hope And Despair“ nicht olle Pophits recycelt, sondern nur die allerexquisitesten Sounds aus der Pophistorie. Das Schimmern alter Jazz-Platten, die fetten Bässe klassischer Reggae-Aufnahmen und das entspannte Ruckeln von Samba oder Bossa fügen sich unter Schnabels Produzentenhänden zu einem musikalischen Entwurf im Cinemascope-Format.

Auf diesem zweiten Album von Radio Citizen traut er sich, das ganz große Rad zu drehen, ergeht sich in orchestralem Größenwahn, lässt Sun Ra oder Art Blakey wiederauferstehen, lädt den Buena Vista Social Club zur Stippvisite und garniert das dann noch mit ein paar überirdischen Soul-Stimmen. Wenn der Jazz tatsächlich eine Zukunft haben sollte, dann hat sie Niko Schabel schon gefunden. Vielleicht nennen wir das einfach mal X-Faktor. THOMAS WINKLER

■ Till Brönner: „At The End Of The Day“ (Island/Universal)

■ Radio Citizen: „Hope And Despair“ (Ubiquity/Groove Attack)