Türkische Regierung tritt zurück

AUSFALL Mitten in den Protesten nach dem Minenunglück: Ein enger Berater Erdogans geht persönlich gegen Demonstranten vor – und steigert damit die Empörung im Land. Auch bisher brave Bürger werden wütend

BERLIN taz | Nach dem Grubenunglück im westtürkischen Soma erschütterten nicht allein die Bilder von geborgenen Leichen und verzweifelten Angehörigen das Land. Für Empörung sorgte zudem ein weiteres Foto. Darauf zu sehen: ein junger Mann in Anzug und Krawatte, der auf eine von zwei Soldaten zu Boden gerissene Person tritt. Der Schläger heißt Yusuf Yerkel, ist 30 Jahre alt, hat im britischen Exeter internationale Beziehungen studiert und ist der jüngste Berater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Das Foto machte über Twitter die Runde und wurde dann von oppositionellen Zeitungen und von Fernsehsendern verbreitetet. Yerkel bestätigte der BBC, auf dem Foto abgebildet zu sein. Eine weitere Erklärung blieb er schuldig, auch auf eine Anfrage der taz reagierte er nicht. Regierungstreue Medien verbreiteten unterdessen, der verprügelte Demonstrant sei kein Angehöriger der Bergleute gewesen, sondern ein aus Izmir angereistes Mitglied der linksnationalistischen Organisation TGB, mithin ein „Provokateur“.

Erdogan war in Soma von wütenden Bürgern empfangen worden. Sie warfen der Regierung vor, nicht für die Sicherheit am Arbeitsplatz zu sorgen. Auch der Besitzer der Mine ist mit Erdogans AKP verbandelt. Für zusätzlichen Unmut sorgte Erdogans Versuch, die Katastrophe, bei der mindestens 282 Bergleute starben, herunterzuspielen: „Das ist eine gewöhnliche Sache“, sagte er. „Schauen Sie nach Amerika mit seiner ganzen Technologie: 1907, Gasexplosion in zwei verschiedenen Bergwerken, 361 Tote.“ Wohl auch deshalb wurde Erdogan in Soma von Bürgern ausgebuht, die seinen Rücktritt forderten. Obwohl er durch Polizei und Militär abgeschirmt war, kam es zu tumultartigen Szenen. Erdogan floh zwischendurch in einen Supermarkt, bei seiner Abfahrt traten Bürger gegen sein Auto. Auffällig: Die Bürger von Soma riefen die Rücktrittsparole nicht in der üblichen Melodie. Vermutlich haben die wenigsten zuvor derlei gesungen, bei der Kommunalwahl Ende März gewann die AKP.

Auch in anderen Städten kam es jetzt zu Streiks und Protesten. DENIZ YÜCEL

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