Der Weg von Auschwitz nach Södertälje

RECHERCHE Mit einer literarischen Spurensuche nähert sich der schwedische Publizist Göran Rosenberg der Geschichte seines Vaters, der Auschwitz überlebte, sich aber fünfzehn Jahre später das Leben nahm

So gut organisiert die Ermordung der Juden war, so gab es im Leben des einen oder anderen doch unglaubliche Zufälle

Göran Rosenberg wurde 1948 in Södertälje geboren. Er ist Schwede. Seine Eltern gaben ihm den schwedischsten aller Vornamen und sprachen zu Hause nichts als Schwedisch mit ihm. Und das, obwohl sie die Sprache selbst zu Beginn noch nicht sehr gut beherrschten. Rosenberg ist Publizist und hat mehrere sehr beachtete Sachbücher geschrieben. Sein Buch über Israel, „Das verlorene Land“, erschien auch auf Deutsch. In Israel lebte seine Familie jahrelang, nachdem der Vater sich in Schweden das Leben genommen hatte. Da war der Sohn zwölf Jahre alt.

Auch Göran Rosenbergs aktuelles Buch ist in mancher Hinsicht ein Sachbuch. Dass er den renommiertesten schwedischen Literaturpreis, den August-Preis, dafür erhielt, hängt mit der sprachlich skrupulösen, oft stilisiert schlichten Form zusammen, die Rosenberg gewählt hat, um sich seinem Thema zu nähern. Er selbst, der Autor als Person, steht mit im Fokus des Textes. Er legt nicht nur den Prozess der Spurensuche offen, auf die er sich begeben hat, sondern versucht auch seiner eigenen, kaum erinnerten Präsenz in dem, was er zu erzählen hat, nachzuspüren. Schließlich war er damals ein Kind. Zuverlässiger als die Erinnerung, die er immer wieder in Frage stellt, sind deshalb die Dokumente; Briefe, Bilder, Zeitungen. Der Journalist Göran Rosenberg forscht der Geschichte des Vaters nach, Dawid Rozenberg, der ein polnischer Jude aus Lodz war, dann ein Holocaust-Überlebender wurde und vom Schicksal irgendwie nach Schweden gespült wurde. Er hatte sogar das Glück, seine ebenfalls überlebende Jugendliebe nachholen und heiraten zu können. Das Paar bekam zwei Kinder. Und dann beging der junge Mann dort in Schweden, 15 Jahre nach Kriegsende, Selbstmord.

Dem vorangegangen war eine bescheidene Erfolgsgeschichte. David Rosenberg, wie er sich nun schrieb, arbeitete in der örtlichen Lastwagenfabrik, verdiente nicht schlecht, konnte sich ein Auto leisten und wollte doch mehr. Versuche, sich als Kleinunternehmer eine Existenz außerhalb der Fabrik aufzubauen, scheitern. Viele jüdische Freunde sind weitergewandert, nach Israel oder in die USA, es gibt keine jüdisch-polnische Community mehr in Södertälje.

Ende der fünfziger Jahre stellt David Rosenberg wiederholt einen Antrag auf Wiedergutmachung bei der westdeutschen Regierung. Wiederholt wird ihm die Wiedergutmachtung verweigert, da keiner der anerkannten, deutschstämmigen „Vertrauensärzte“ der deutschen Regierung ihm bescheinigt, durch die KZ-Erfahrung zu 25 Prozent in seiner Arbeitsfähigkeit geschädigt zu sein. Einer attestiert ihm stattdessen eine „Rentenneurose“. Der andere bescheinigt lediglich 20 Prozent Geschädigtsein, was für eine Wiedergutmachung im Jahr 1960 nicht reicht. Kein halbes Jahr später ist der Rentenneurotiker tot.

Mit seinem Buch führt Göran Rosenberg ein einseitiges Vater-Sohn-Gespräch. Es ist ein Gespräch, in dem der Sohn seinem Vater dessen Geschichte erzählt, ihn damit gleichsam fragend, ob nun alles so stimme. Da der Vater keine Antworten gibt, tut der Sohn sein Bestes, die Lücken im Gespräch durch akribische Recherche zu füllen. Er fährt nach Deutschland, auf den Spuren der Lastwagenwerke Büssing in Braunschweig, die ihre Lastwagen von jüdischen Sklavenarbeitern produzieren ließen, und des Konzentrationslagers Wöbbelin, das einst in der Nähe von Ludwigslust lag. Aber das ist nicht alles. Über weite Strecken beschreibt Rosenbergs Buch ein fröhliches, normales Familienleben in einer etwas langweiligen schwedischen Kleinstadt, in der es eine große Fabrik und einen beliebten Badestrand gibt.

Rosenberg ist ein achtsamer Rechercheur. Überall, sogar im Sand des Badestrands von Södertälje, sucht er die Spuren, die zu der schweren Depression führten, an der David Rosenberg starb. Dieser Weg aber begann in Auschwitz. Und durch Göran Rosenbergs Bericht über seine Recherche geschieht es, dass zumindest ansatzweise vorstellbar wird, was das bedeutet. Das fragmentarische Detailwissen über die deutsche Vernichtungsmaschinerie, das Rosenbergs Spurensuche zutage fördert, konkretisiert das Grauen als Teil eines eigentlich undenkbaren Alltags. Sklavenarbeit, Vernichtungslager, dazwischen ein Essenspaket vom Internationalen Roten Kreuz für die jüdischen Gefangenen, das David Rosenberg vermutlich das Leben rettete.

So gut organisiert die Ermordung der europäischen Juden war, so gab es im Leben des einen oder anderen doch unglaubliche Zufälle, die den Unterschied zwischen Überleben und Sterben bedeuteten. Einem solchen Zufall ist es zu verdanken, dass Göran Rosenberg in Södertälje geboren werden konnte. Dass er aber Publizist wurde und in dieser Eigenschaft versuchen sollte, die Geschichte seines Vaters schreibend begreiflich zu machen, ist vermutlich alles andere als zufällig. KATHARINA GRANZIN

Göran Rosenberg: „Ein kurzer Aufenthalt“. Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer. Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 400 S., 22,95 Euro