„Im Baumarkt treffen Sie doch auch Akademiker“

JETZT MAL IM ERNST … Klaus Klemm: Warum klammern sich Eltern ans Gymnasium? Ein Gefühl, sagt der Forscher

■ 72, ist Bildungsforscher und lehrte bis 2007 an der Universität Duisburg-Essen. Er saß im wissenschaftlichen Beirat der Pisa-Studien. 2010 wurde Klemm in den Expertenkreis „Inklusive Bildung“ der Deutschen Unesco-Kommission e. V. berufen.

INTERVIEW JULIA LEY

sonntaz: Herr Klemm. Auslese. Einpauken. Stress. Viele kritisieren das Gymnasium. Sollte man es nicht einfach abschaffen?

Klaus Klemm: Ich war immer dafür, dass es nach der Grundschule nur noch eine Schule für alle gibt. Allerdings müsste dieser allgemeine Schultyp dann stärker auf individuelle Lernvoraussetzungen eingehen.

Ist das politisch machbar?

Das erfolgreiche Bürgerbegehren in Hamburg hat gezeigt: nein.

Die Hamburger haben sich dagegen ausgesprochen, das Gymnasium um zwei Jahre zu verkürzen, damit die Schüler länger in der Grundschule zusammen lernen.

Spätestens da haben wir gesehen, dass eine Mehrheit für die Abschaffung des Gymnasiums nicht zu mobilisieren ist.

Wer ist schuld?

Die Eltern, die sich mit dem Gymnasialbesuch ihrer Kinder auf der sicheren Seite wähnen, werden doch nicht die sichere Seite abschaffen. Neben dem Abitur setzt man nach wie vor auf den feinen sozialen Unterschied. Vom Gymnasium wird erwartet, dass ein Absolvent am Ende auf irgendeine Weise anders ist. Das wird allerdings selten so ehrlich gesagt.

Wie denn „anders“?

Eine Erwartung der Eltern ist sicherlich, dass die Kinder neben fachlichen Kompetenzen eine Art Etikett bekommen: erfolgreicher Gymnasiast. Wenn ich weiß, wie ich in ein Bewerbungsgespräch gehe und gekonnt Smalltalk machen kann, habe ich einen Vorteil. Das kann eine Schule, in der Kinder aus sozial schwachen Familien überwiegen, einfach nicht aufholen.

Es geht darum, dass die oberen Schichten sich selbst erneuern?

Das ist der Effekt. Es gibt andere Schultypen – international und national –, die zu vergleichbaren Erfolgen führen. Das belegen viele Studien. Trotzdem hält man am Gymnasium fest. Am Ende geht es um ein Gefühl: Wir wollen unter uns bleiben.

Ganz unter sich ist man ja nicht. Es gehen immer mehr Kinder ans Gymnasium.

In der Tat. Deswegen werden die Unterschiede zwischen den Gymnasien wieder wichtiger. So beobachten wir zum Beispiel, dass viele Eltern wieder Latein als erste Fremdsprache wollen. Und das kaum, damit ihre Kinder der lateinischen Messe folgen können. Nein, so kann man sich von den anderen abheben.

Was ist mit Eltern, die ihr Kind bewusst auf eine Gesamtschule geben wollen?

In einem Bezirk, in dem nach der Grundschule fast alle aufs Gymnasium gehen, stehen viele vor einem Konflikt: Sollen sie das Kind aus dem Freundeskreis reißen?

Eine Art Zugzwang.

Hinzu kommt: Eltern wissen, dass man einen guten Abschluss braucht, um später erfolgreich zu sein. Viele glauben, dass Kinder unter Gleichstarken, also in Gymnasien, besser lernen.

Stimmt nicht?

Wir wissen, dass schwächere Schüler in gemischten Gruppen mehr lernen. Gleichzeitig werden stärkere Schüler in gemischten Lerngruppen nicht ausgebremst. Im Übrigen: Die Leistungsunterschiede an Gymnasien sind heute viel größer als viele denken. Es finden sich dort bis zu 60 oder 70 Prozent des Leistungsspektrums. Auch Schüler, die schwächer sind als die besten Haupt- und viele Realschüler.

Das klingt, als löse sich das Gymnasium selbst auf. Wird es zur Gesamtschule mit anderem Namen?

Nein, die soziale Auslese findet ja trotzdem statt. Ein Kind aus der „richtigen“ Familie kommt zweieinhalb mal häufiger ans Gymnasium als eins aus einer „falschen“. Außerdem: Solange die Gymnasien Kinder in eine weniger anspruchsvolle Schulform abschieben können, werden sie das auch tun. Sie werden sich verteidigen.

War das Gymnasium in seinem Ursprung elitär?

Als man in Preußen das Abitur einführte, wollte man verhindern, „dass so viele Jünglinge … unwissend zur Universität eilen“. Ein Versuch, die auszugrenzen, die man für ungeeignet hielt.

Es war also von Anfang an eine Institution der oberen Schicht.

Ja, aber es gab Ausnahmen. In Berlin besuchten im 19. Jahrhundert große Teile des Jahrgangs – das heißt der Jungen – das Gymnasium. Auch die aus bildungsfernen Schichten. Sie verließen es aber mit Ende der Schulpflicht, lange vor dem Abitur. Wilhelm von Humboldt schrieb damals: „Auch Griechisch gelernt zu haben, könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz sein, als Tische zu machen dem Gelehrten.“

Viele meinen heute, das Gymnasium fördere akademisches Talent und die Realschule handwerkliche Fähigkeiten.

Bei Zehnjährigen kann man kaum feststellen, ob sie akademisch oder handwerklich begabt sind. Man versucht es auch nicht, denn für die Gymnasialempfehlung zählen vor allem die Noten. Schon die Annahme, dass jemand entweder akademisch oder handwerklich begabt ist, ist doch mehr als verwegen. Im Baumarkt treffen Sie doch auch Akademiker.