Sehr heiß, sehr süß – und Instrument der Unterdrückung

DÜSTERE UTOPIE Der Tee ist das neue Opium fürs russische Volk: Mit dem Erzählungsband „Der Zuckerkreml“ hat Vladimir Sorokin ein Konzentrat seines Gesamtwerks vorgelegt. Schön postmodern und voll politischer Bezüge

Ein literarisches Gemälde aus Bettlern, Dissidenten, Hofnarren und anderen verlorenen Seelen

Russen trinken gern Tee. Literarisch x-fach verewigt ist der vor sich hin brodelnde Samowar, auf dem eine kleine Kanne mit Teekonzentrat steht. Auch im „Zuckerkreml“, dem neuen Buch von Vladimir Sorokin, Russlands wohl bekanntestem, 1955 in der Nähe von Moskau geborenem Schriftsteller, simmert es von Beginn an im Samowar.

In der atmosphärisch zunächst noch an die russischen Realisten des 19. Jahrhunderts erinnernden Eingangsepisode „Marfuschas Freude“ ruft ein altes Mütterchen die kleine Marfuscha zum Frühstück und fordert sie auf, einen Samowar aufzustellen. Es herrsche Ordnung im Land, erfährt der Leser, „ganz wie der Gossudar sein Volk geheißen hatte“. In seinem Roman „Der Tag des Opritschniks“ von 2007 hatte Sorokin eine Utopie düsterster Sorte entworfen. Unter ihrem „Gossudar“ genannten Führer herrschen im Jahr 2027 die Opritschniks, benannt nach der berüchtigten Leibgarde Iwans des Schrecklichen. Zu dieser neuen, ebenso nationalistischen wie korrupten Elite gehört Komjaga, aus dessen Perspektive der Roman erzählt ist. Im gleichen, deutlich auf die gegenwärtige politische Situation in Russland bezogenen Kosmos bewegt sich auch Sorokins neues Buch, nur schreiben wir inzwischen das Jahr 2028.

„Der Zuckerkreml“ ist ein experimenteller Erzählband, bestehend aus Kurzgeschichten, Dialogsequenzen, Briefen und lyrischen Einsprengseln. Auch der Opritschnik Komjaga taucht wieder auf, und gottgleich über allem schwebt der Gossudar, der seine Russen durch einen gigantischen Unterdrückungs- und Propagandaapparat im Zaum hält. Ein neues Opium fürs Volk hat sich der Gossudar ausgedacht: den Kreml im Miniaturformat aus purem Zucker. „Und jetzt süßen wir unseren Tee mit Kremlmauern“ schreibt im Kapitel „Der Brief“ eine junge Frau, die dem weißen, verführerisch süßen Kreml auf den Leim gegangen ist, genauso wie das Mädchen Marfuscha, das am Weihnachtstag auf dem Roten Platz nichts sehnlicher wünscht, als von dieser Süßigkeit zu naschen.

Sorokins neues Buch liest sich wie eine Art dickflüssiges Konzentrat seines Gesamtwerks, das – bildlich gesprochen – genauso heiß sprudelt wie das Wasser im Samowar. Bezüge zum „Opritschnik“ gibt es im „Zuckerkreml“ haufenweise. Und wie schon in dem Buch „Der himmelblaue Speck“ (2000) hinterlässt die chinesische Sprache auch hier ihre Spuren in der russischen. Ein Kapitel erinnert an Sorokins avantgardistischen Roman „Die Schlange“ von 1990. Sogar eine mystische Sekte kommt vor, auch wenn es sonst wenige Parallelen zur Ljod-Trilogie gibt.

Aber Sorokin spielt in diesem literarischen Gemälde aus Bettlern, Dissidenten, Hofnarren und anderen verlorenen Seelen nicht nur auf seine eigenen Werke an, sondern liefert einen liebevoll-ironischen Abriss der russischen Literaturgeschichte. Mit Robotern und Hologrammen huldigt er der in Russland sehr populären Sci-Fi-Literatur, zu deren Autoren er selbst zählt, parallel schreibt er regelrechte Tschechowszenen, ein sprechender Schürhaken erinnert an Gogols „Mantel“ und „Nase“.

„Ein nettes Volksmärchen ist das. Kommt es Ihnen bekannt vor?“, so lautet im „Zuckerkreml“ ein intertextueller Kommentar zu den eigenen Parodien und Zitatspielereien. Sorokin erweist sich einmal mehr als ein postmoderner Autor, der sein Metier virtuos und kraftvoll beherrscht.

TOBIAS SCHWARZ

Vladimir Sorokin: „Der Zuckerkreml“. A. d. Russ. v. Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 239 S., 18,95 Euro