All is well oder Sisyphos‘ Mythos

Groningen zu Gast in Münster: Die Choreografen Guy Weizman und Roni Haver im Pumpenhaus

Wird hier noch geprobt, oder hat das Stück schon begonnen? Diese Frage stellt man sich unwillkürlich beim neuen Erzeugnis des aus Israel stammenden und in Groningen arbeitenden Choreografenpaares Guy Weizman und Roni Haver. Um die bis auf ein Podest fast leere Bühnenfläche stehen Stühle, daneben Wasserflaschen und es liegen Klamotten zum Umkleiden herum. Immer wieder setzen sich hier die sechs Tänzer des Ensembles, ruhen aus, warten auf ihren nächsten Einsatz oder wechseln von Turnschuhen zu Spitzenschühchen.

„All is well“ haben die beiden ihr Werk benannt, das am Wochenende in Münsters Pumpenhaus ein umjubeltes Gastspiel gab. Laut Programmheft orientieren sie sich in ihrer Ausdrucksweise an Albert Camus‘ Essay „Der Mythos vom Sisyphos“, dem zur Folge die tragische Gestalt in vollem Bewusstsein des unendlichen Kreislaufs seines Handelns immer wieder den Stein den Berg hoch rollt. Die beiden Choreografen konstruieren in ihrem Stück ganz ähnlich nach und nach ein wachsendes Bewusstsein für die moderne Welt, in dem sie deren lauten, nervösen, massigen medialen Auswirkungen in ungewohnter und fesselnder Drastik immer wieder in völlige Ereignislosigkeit zerfasern lassen und damit verstören.

Dazu konfrontieren Weizman und Haver das Schöne oder vielmehr die Erinnerung an das anmutige klassisch-romantische Ballett mit Hektik, Chaos und Aggressivität. Da tanzt anfangs ein Pärchen auf dem quadratischen Podest, das mit seinen Seilen in jeder Ecke wie ein Boxring wirkt, eine Art in Zeitlupe ablaufendes Paarungsritual. Seltsam zärtlich erscheinen die Berührungen der Beiden. Sie drückt seinen Kopf sanft nach unten, er hebt ihren Körper mit seinem Nacken langsam in die Höhe.

Gleichzeitig führt eine andere Tänzerin zwei ihrer Kollegen hundegleich an dominahaften Leinen durch den Raum. Kampfartige Szenen entstehen, die die Tiere zum Sieg über die Herrin führen. Hier ist von Zärtlichkeit nichts mehr übrig. Hier ist harte, schnelle Auseinandersetzung als Gegenpol zum Paar über ihnen angesagt. Die eigens zu dieser Inszenierung von Yannis Kyriakides komponierte Musik streut minimalistisch Flagolettetöne einer E-Gitarre und an Windböen erinnernde Sounds über das Geschehen.

Als die Musik mit fernen, synthetisch wirkenden Streichern ins Harmoniereiche gerät, tragen die Tänzerinnen plötzlich Spitzenschuhe und deuten vertraute Balletthaltungen an. Dann werden wieder moderne Figuren und Bewegungen aneinander gereiht, geprobt, ausprobiert. Dazwischen entstehen lange Pausen, in denen nichts geschieht und auch keine Musik ertönt, bis sich die vermeintliche Theaterrealität vollkommen auflöst, wenn die Tänzer beginnen, über die Bewegungen einer ihrer Kollegin zu diskutieren, diese bewerten und die Künstlerin zu Höchstleistungen anstacheln. Als sie dann endlich einen fast schon grotesk wirkenden fröhlichen Gesichtsausdruck zustande bringt, sind alle zufrieden und loben sie.

Doch was hier in seine Entwicklungs-, also Probenphase und die schauspielerischen, mimischen Elemente aufgelöst wird, ist nicht das (zeitgenössische) Tanztheater, es scheint viel mehr die Gesellschaft mit ihren oberflächlichen Wahrnehmungsgewohnheiten zu sein, die hier desavouiert werden soll. Moderne Schnelllebigkeit und Gefallsucht verwickeln sich in einander, umgarnen sich, widerstreben einander und heben sich auf. Damit beweisen Weizman und Haver nicht nur Mut zur Stille und Ereignislosigkeit – beide führen ihr Metier so eindrucksvoll an den Rand des Darstellbaren. HEIKO OSTENDORF

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