Zeit der Falken

GEWALT Auf allen Seiten drängen die Hardliner nach vorn, die Zahl der Opfer im Konflikt zwischen Regierung und Separatisten steigt weiter

AUS DONEZK BERNHARD CLASEN

Viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Ukraine nähere sich immer mehr einem Punkt, an dem die Entwicklung außer Kontrolle geraten könne, warnte am Sonntag Ivan Simonovi, UN-Untergeneralsekretär für Menschenrechte: „Zu diesem Punkt wird man kommen, wenn nicht sofort richtige Maßnahmen ergriffen werden“, erklärte der Diplomat gegenüber BBC. Er fühle sich an die Situation in seiner kroatischen Heimat anfang der 90er Jahre erinnert. Die mündete in die Kriege auf dem Balkan.

Die weitere Eskalation der Gewalt am Wochenende in der Ostukraine scheint dem UNO-Diplomaten Recht zu geben, auch wenn die Angaben über die Opfer oftmals widersprüchlich sind. So berichtete der selbsternannte Bürgermeister von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, bei Kämpfen um die Stadt seien am Samstag sieben ukrainische Soldaten und ein Aufständischer ums Leben gekommen. Den ganzen Tag und die folgende Nacht sei Slawjansk beschossen worden. Auch der ukrainische Innenminister Arsen Awakow berichtet von gewaltsamen Auseinandersetzungen. Seinen Angaben zufolge hat es bei den ukrainischen Sicherheitskräften keine Opfer gegeben, ein Aufständischer sei getötet worden. Derweil teilte ein Sprecher der „Volksrepublik Donezk“ mit, auch vor dem nordöstlich gelegenen Kramatorsk sei gekämpft worden.

Die jüngsten Versuche der Regierung in Kiew, an einem runden Tisch mit Bürgern und Gruppen aus der Ostukraine – sofern sie nicht bewaffnet sind – in den Dialog zu treten, haben bislang nicht gefruchtet. Zwar ist die Kiewer Machtelite nun zu weitgehenden Zugeständnissen bereit, etwa zum gesetzlich festgeschriebenen Status für Russisch als Staatssprache und zu weitgehender Dezentralisierung. Aber vielen kommt dieser Konsens zu spät.

Auf beiden Seiten haben die Falken Hochkonjunktur. Man denke gar nicht an eine Selbstauflösung, erklärten Vertreter der Selbstverteidigung des Maidan gegenüber der ukrainischen Ausgabe der Komsomolskaja Prawda. Damit stellen sie sich offen gegen den ukrainischen Sicherheitsrat, der eine Auflösung dieser Gruppen gefordert hatte.

Präsidentschaftskandidat Dmitrij Jarosch vom Rechten Sektor kündigte einen groß angelegten Partisanenkrieg im Osten der Ukraine an, der auch die Krim erfassen solle. Dabei würden die Krimtataren eine wichtige Rolle spielen, sagte er.

Unterdessen forderte die Führung der „Volksrepublik Donezk“ die ukrainischen Sicherheitskräfte auf, sofort ihr Gebiet zu verlassen. Andernfalls müssten „die Okkupanten“ mit ihrer Vernichtung rechnen.

Während sich beide Seiten in Entschlossenheit und Erfolgsmeldungen zu übertreffen suchen, nimmt das Leid der Bevölkerung kein Ende. Nach einem UNO-Bericht hat sich die Lage im Osten der Ukraine dramatisch verschlechtert: Seit Beginn der Antiterroraktionen seien 127 Menschen getötet worden. Die Aufständischen hielten viele Personen, vor allem Journalisten, nach wie vor als Geiseln fest.