DER AKADEMISCHE INTELLEKTUELLE IM BOLOGNA-PROZESS
: Rückzug in die Firma

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VON ARAM LINTZEL

Rein quantitativ – und nur so gesehen – war das ablaufende Jahr ein ergiebiges Debattenjahr. Außer Sarrazin ff. gab es noch diverse Makrodebatten („Wutbürger“, „Das Amt“), Neben- und Unterdebatten wie die über „Der kommende Aufstand“ und Debatten, die keine werden durften wie der „Feminismus-Streit“. Debattenfreunde freut das, denn wo Debatte ist, da geht es ihrer Meinung nach munter demokratisch zu, da herrschen Gedanken- und Redefreiheit. Und da dürfen auch mal angebliche Tabus gebrochen werden. Dass sich noch in der lebhaftesten Debatte eine Ordnung dessen formt, was gesagt und nicht gesagt werden kann, dass amtliche Vertretungsansprüche auf den Plan gerufen und Sprecherpositionen nach ungeschriebenen Regeln verteilt werden, beeinträchtigt dieses Freiheitsversprechen wenig.

Jenseits vom Inhalt der Debatte ist es deshalb aufschlussreich, zu schauen, wer mitredet und wer nicht. Einige Indizien sprechen dafür, dass die Debatten anno 2010 noch stärker als bisher von einem Reglement der Zuständigkeiten und des Expertentums bestimmt waren. Redakteure und Podiumsorganisatoren lassen über Integration am liebsten migrantische Publizisten schreiben und sprechen, über Feminismus Gender-Theoretikerinnen, über demonstrierende Bürger den Protestforscher. Weitgehend verschwunden ist aus diesem System zumindest hierzulande der öffentliche Intellektuelle, der gerade dann das Wort ergreift, wenn er nicht gefragt ist, der sich Kompetenz in fachfremdem Terrain anmaßt und im Sprechakt „Ich bin hier zuständig“ die Grenzen intellektueller Arbeitsteilung überschreitet. Dass ausgerechnet der in vielerlei Hinsicht ungenießbare Peter Sloterdijk so oft vorkommt, dürfte nicht nur daran liegen, dass er den neoliberalen Common Sense mit dräuender Geschichtlichkeit anfüttert. Er ist einfach auch einer der Letzten, der das Gehäuse der intellektuellen Expertise aufbricht und für fast jedes Thema auf Stand-by geschaltet ist – von Finanzpolitik bis Bürgerwut. Sein Habitus großintellektuell schwurbelnder Eitelkeit fällt vielleicht deshalb wenigen unangenehm auf, weil es in der deutschen Debattenlandschaft sonst kaum mehr jemand wagt, die Öffentlichkeit mit seinen Idiosynkrasien zu konfrontieren und dort zu reden, wo er kein Sachverständiger ist. Es gibt die Nachfrage, aber leider keinen Anti-Sloterdijk, der ein vergleichbar starker Sender wäre.

Unabhängig von der berechtigten Kritik am Modell des Universalintellektuellen a là Sartre liegt es nahe, im zunehmenden Verschwinden des Zuständigkeit behauptenden Intellektuellen ein Symptom bestimmter Entwicklungen an den Universitäten zu vermuten. Die permanente Reform des „Bologna-Prozesses“ befördert den Rückzug des akademischen Intellektuellen in die Zone der Fachkompetenz. In seiner pointierten Einleitung zur neuen Ausgabe des Zürcher Jahrbuchs für Wissensgeschichte, die den schönen Titel „Nach Feierabend“ trägt, stellt Herausgeber Michael Hagner die entscheidenden Fragen hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion des Wissenschaftlers: „Worin besteht ihre Rolle in der Öffentlichkeit jenseits von marktorientierter Selbstdarstellung? Können sie überhaupt noch glaubwürdig als Intellektuelle auftreten oder nur noch als Experten, die zu einer bestimmten Frage Stellung nehmen?“ Hagner problematisiert denn auch die „unternehmerische Universität“ mit ihrer Orientierung an Kriterien der Effizienz. Die Drittmittelantragskultur und der ganze Evaluierungsstress, so legen Hagner und andere Autoren in „Nach Feierabend“ nahe, schaffen Bedingungen, die den Behauptungsakt unbedingter Zuständigkeit massiv erschweren. Nicht mehr der – als Vorwurf eh blöde – „Rückzug in den Elfenbeinturm“ wäre also das Problem, sondern gewissermaßen der Rückzug in die Firma.

Die Intervention in öffentliche Debatten verspricht in dieser Situation kaum Standortvorteile. Womöglich haben wir es beim akademischen Intellektuellen nach Bologna mit einer vom „Neuen Geist des Kapitalismus“ hervorgebrachten Variante jenes „organischen Intellektuellen“ zu tun, von dem einst Antonio Gramsci sprach. So wie dieser nicht jenseits des Klassenkampfes stand, bewegt sich der „unternehmerische Intellektuelle“ nicht jenseits der neokapitalistischen Wettkämpfe. Natürlich kann es deswegen nicht darum gehen, nostalgisch einen neuen Universal-Sartre mit advokatorischem Führungsanspruch herbeizusehnen. Aber das deutsche Debattenwesen sich selbst überlassen? Das kann es dann irgendwie auch nicht sein.

■  Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin