Zwei Kameras für den Kommunismus

Festangestellt im Dienst der „Wahrheit“: Das Kreuzberg-Museum zeigt die Bilder des Fotografen Jürgen Henschel

Eines seiner Bilder, es stammt aus dem Jahr 1967, kennt jede und jeder. Es zeigt eine verschreckt umherblickende Dame im dunklen Ballkleid, die vor dem schwerverletzten, sterbenden Benno Ohnesorg kniet. Das Foto brachte der als Operngast gekleideten Protestiererin – sie war Lehrerin – das Berufsverbot in zwei Bundesländern ein.

Jürgen Henschel hat nicht nur dieses weltberühmte und preisgekrönte Bild geschossen, auch ein anderes bekanntes Image der 68er-Bewegung stammt von ihm – das Foto der brennenden Zeitungswagen vor dem Springer-Verlagshaus. Jürgen Henschel war jedoch gar nicht so sehr ein Wegbegleiter der APO, vielmehr war er als festangestellter Fotograf der Zeitung Die Wahrheit dazu verpflichtet, die APO, da sie nicht durchweg an der Idee des Staatskommunismus festhielt, auf Distanz zu halten. Die Wahrheit nämlich war das Organ der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, die – ein Kuriosum des Kalten Krieges – in der umschlossenen Halbstadt die realsozialistische Partei anstelle der DKP gab. Wie die SEW selbst war auch die Wahrheit in der Wahrheit eine selbstredend von der DDR gelenkte. Nicht umsonst also dokumentierten Henschels Fotos Demonstrationen für die Anerkennung der DDR.

Jürgen Henschel war bereits Mitte Vierzig, als er 1967 seine Stelle als Fotograf für die Wahrheit antrat, und er diente der Sache des Kommunismus auf Lohnbasis bis 1988. Daher fehlen in der Geschichte des Berliner Alltags und der sich auf der Straße abspielenden Politik, die er als rasender Fotograf einfing, der Mauerfall und die Wende. Heute pflegt Henschel als Rentner seinen Schrebergarten.

Die Fotos, die nun im Kreuzberg-Museum, das auch als Verwalterin seines Vorlasses fungiert, im Rahmen des Monats der Fotografie ausgestellt sind, vermitteln folglich den Eindruck, aus einer anderen Zeit zu kommen – nicht nur die Stadt, auch die Welt hat sich seit 1988 in einem Tempo verändert, das alle „Revolutionen“ und Umbrüche zwischen 68 und 88 wie Kikikram aussehen lässt. Wenn man so will, schildert Henschel die gute alte Zeit, die allerdings auch nicht gut war. Man sieht Demonstrationen, Streiks, politische Beerdigungen, politisches Theater, aber auch Marktszenen und ein Kreuzberg, das 1980 so aussah wie Friedrichshain im Jahre 1990. So versteht man plötzlich, warum seinerzeit so viele Leute die Kahlschlagsanierung begrüßten, brachte sie doch erstmals warme Wohnungen und richtige Toiletten mit sich.

Die Ausstellung ist dankenswerterweise sehr nüchtern gehalten, überlässt den Raum den Bildern. Lediglich die Werkzeuge Henschels, zwei Kameras und eine Trittleiter, die er nutzte, um eine bessere Perspektive zu erlangen, sind als Objekte zu bestaunen. Und einige Exemplare der Wahrheit, einer Zeitung, die zwischen Imperialismusthese, Volkstümelei und Linksromantik hin- und herschwankte und dabei nicht sehen konnte, was Henschels Fotos für den heutigen Betrachter abbilden: eine Zeit, in der die Menschen sich nach anderem sehnten als einer verstockten Partei, nämlich nach einem Raum zur Artikulation ihrer Ansprüche.

Bilder, auf denen die Sehnsüchte sichtbar werden, nahm Henschel auf, immer nah an den Ereignissen, aber – was ihre Inszenierung angeht – auf seltsame Weise unbeteiligt, quasiobjektiv. Diese Nüchternheit macht diese Fotos so besonders. Sie denunzieren die Abgebildeten nicht, sondern fordern Stellungnahmen. Sie fingen eine Hoffnung ein, die sie heute im Museum, also konserviert, noch immer versprühen.

JÖRG SUNDERMEIER

„Jürgen Henschel – der Fotograf der ‚Wahrheit‘“, Mi.–So., 12–18 Uhr, Kreuzberg-Museum, Eintritt frei