Alles schnell zu Protokoll

Die große Koalition drängt die Opposition im Parlament immer mehr ins Aus – mit sauberen und nicht so sauberen Tricks

Pseudodebatten zur Geisterstunde, Gesetzgebungsverfahren im Affentempo

AUS BERLIN KATHARINA KOUFEN

Um neun schlenderten hier noch Touristen mit der Pizza auf der Hand vorbei. Um zehn verließ ein Reisetrupp aus dem Hessischen gut gelaunt den Aufzug von der Reichstagskuppel. Um elf saß immerhin noch ein Pärchen auf der untersten Stufe zwischen Reichstag und Spree und blickte gemeinsam aufs Wasser.

Aber um drei? Um drei Uhr nachts schwappt der Fluss schwarz und ruhig in seinem gemauerten Bett zwischen Abgeordnetenhaus und Reichstag. Sonst: nichts. „Um diese Zeit ist hier immer tote Hose“, sagt der Nachtportier an der Eingangsschleuse des Reichstags. Sitzung? „Die ist längst zu Ende.“ Abgeordnete? „Nu glauben Sie mir doch: Alle nach Hause.“

Eine Herbstnacht vor ein paar Wochen. In dieser Nacht zeigt sich, wie die große Koalition unter Angela Merkel seit genau einem Jahr regiert: wie die Opposition, auch mit Geschäftsordnungstricks, ausgebootet, das Parlament entmachtet, unliebsame Themen verdrängt werden. Laut der Tagesordnung der 54. Sitzung in der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestags sollte hier und jetzt eine Sitzung stattfinden. Tagesordnungspunkt 28 hätte sogar noch nicht einmal begonnen: Er ist für diese Nachtstunde angesetzt, genau für die Zeit von 3.40 bis 4.15 Uhr. Im besten Falle säßen nun alle 614 gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes auf ihren blau gepolsterten Stühlen. Im besten Falle verfolgten sie aufmerksam die Reden der Kollegen aus den Fraktionen, riefen ab und zu dazwischen oder klatschten auch mal spontan Beifall. Im zweitbesten Falle hinge immerhin noch ein Grüppchen tapferer Volksvertreter in ihren Sitzen.

Doch weder noch: Tagesordnungspunkt 28, anberaumt für Donnerstagnacht, 3.40 Uhr, findet nicht statt. Ebenso wenig wie die Punkte 20 bis 27. Bereits kurz vor neun packte die letzte Rednerin ihre Unterlagen – Thema: Steuerpolitik – zusammen, stellte der Saaldiener das Mikrofon aus. Nur eine Schulklasse verharrte noch auf der Zuschauertribüne, ihr Lehrer dozierte zum Reichstagsbrand 1933. Die für später geplanten Reden wurden schon im Laufe des Tages „zu Protokoll gegeben“. Das heißt: Sie werden schriftlich an alle Abgeordneten geschickt.

Nun kann man sagen, was soll’s, ist doch sowieso nur die erste Lesung, und alles Wichtige wird später in den Fachausschüssen verhandelt. Und, klar, die erste Lesung ist vor allem dazu da, den Prozess der Gesetzgebung formal in Gang zu bringen.

Tagesordnungspunkt 28 ist Kinderarmut. Ein Thema, das der großen Koalition angeblich sehr am Herzen liegt. Die Zahl der Kinder, die unter der Armutsgrenze leben, nimmt in Deutschland seit Jahren zu. Dagegen wollen alle etwas tun. In Tagesordnungspunkt 28 geht es um den Kinderzuschlag. Eltern können ihn zusätzlich zum Kindergeld beantragen, wenn ihr Einkommen knapp über der Hartz-IV-Grenze liegt. Unter anderem will die Linksfraktion einen Antrag einbringen, das Existenzminium für Kinder von 207 auf 420 Euro anzuheben. So viel Geld ist nötig, um Kinderarmut zu bekämpfen, hat der Paritätische Wohlfahrtsverband ausgerechnet. Betrifft: 150.000 Familien. Punkt 27: „Weiterentwicklung der Regelsatzbemessung“ für Sozialhilfeempfänger. Betrifft: siebeneinhalb Millionen Menschen.

Man kann auch so argumentieren: Wenn Debatten um drei Uhr nachts auf der Tagesordnung stehen, dann heißt das, Öffentlichkeit ist nicht erwünscht. Die erste Lesung eines Gesetzesantrags ist mehr als bloße Formsache. „Hier haben die Fraktionen bereits die Möglichkeit, kämpferische Reden zu halten und dadurch die Öffentlichkeit wachzurütteln“, erklärt Wolfgang Rudzio, Professor für Politikwissenschaft und Autor eines Standardwerks über das politische System der Bundesrepublik.

Nun versuchen Regierungen stets, der Opposition möglichst wenig Raum zu lassen – die große Koalition aber treibt dieses Spiel seit einem Jahr auf die Spitze. Für Silke Stokar, Abgeordnete der Grünen, ist besonders ärgerlich, dass die Opposition seit dem Regierungswechsel mit ihren Anträgen kaum zum Zuge kommt. „CDU und SPD mit ihrer überwältigenden Mehrheit reservieren sich für ihre Endlosreden die besten Zeiten.“ Wichtige Themen verschwänden auf diese Weise oftmals „im Dunkeln“. Besonders häufig fielen Themen hinten rüber, die mit Bürgerrechten zu haben. Auch die Liberalen murren über die „Übermacht der großen Koalition“: „Wir merken das sowohl bei unseren Themen als auch bei den Redezeiten“, sagt Jörg van Essen, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP. „Oft kommt bei der ersten Debatte im Bundestag noch die Opposition zu Wort, danach aber nicht mehr.“

Die Redezeiten werden nach Proporz vergeben. SPD und Union haben zusammen 69,4 Prozent der Bundestagsmandate. Macht bei einem Sitzungstag von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends etwa achteinhalb Stunden für die große Koalition, dreieinhalb Stunden für FDP, Grüne und Linksfraktion zusammen. Pro Oppositionspartei also eine Stunde, 10 Minuten. Geht man davon aus, dass das Parlament etwa 20 Tagesordnungspunkte in so einen Tag hineinzwängt, bevor der Rest der Reden zu Protokoll gegeben wird, macht das dreieinhalb Minuten Redezeit pro Thema. Oder sieben Minuten, wenn eine Fraktion nur zu jedem zweiten Thema ihre Meinung sagt. Van Essen warnt vor den möglichen Folgen: „Wir wissen noch aus der letzten großen Koalition von 1966–69, was passieren kann, wenn die Opposition im Parlament nicht mehr richtig wahrgenommen wird: Es bildet sich eine außerparlamentarische Opposition.“

Allerdings: Ob die Opposition wahrgenommen wird, hängt nicht unbedingt davon ab, ob sie innerparlamentarisch stattfindet oder außerhalb des Bundestags – und auch nicht von ihrer Redezeit im Parlament. Mindestens so wichtig ist die Präsenz in den Medien. „Die ist im Vergleich zu ihrem Anteil an Sitzen im Bundestag sehr hoch“, sagt Rudzio. Denn während SPD und Union ständig in dem Dilemma stecken, sich von einander abzugrenzen und doch gemeinsame Politik machen zu müssen und nicht selten vor dem Mikrofon herumeiern, haben es die kleinen Parteien leichter.

Rudzio: „Die Grünen zum Beispiel: Sie machen den Mund wieder sehr viel weiter auf, seit sie nicht mehr an der Regierung sind.“ Ein Beispiel: Endlich vom Zwang befreit, kleiner Partner der großen SPD zu sein, stimmten sie vorvergangenen Freitag erstmals gegen die Verlängerung des Mandats der Bundeswehr zur Anti-Terror-Bekämpfung in Afghanistan – anders als die große Koalition. Dort stimmten viele Abgeordnete nur unter Bauchschmerzen mit Ja. Einige Grüne dagegen wirkten fast erleichtert, als sie zur Abstimmung nach vorne schritten.

Wichtige Themen auf späte Nachtstunden legen, wenn die Nachrichten im Fernsehen gelaufen und die Kameras im Reichstagsgebäude abgebaut sind, kurz: möglichst wenig Aufsehen erregen – in diesem Stil hat die große Koalition schon eine ganze Reihe Gesetze durchwinken lassen. So verabschiedete der Bundestag an einem Donnerstagabend im Juni zur besten WM-Zeit im Hauruckverfahren mehrere, bei vielen Deutschen unpopuläre Maßnahmen wie die Kürzung der Pendlerpauschale und die Einführung einer Reichensteuer. Nur Stunden vorher hatte der Finanzausschuss noch Änderungen in den Text hineingeschrieben. Den Abgeordneten blieb kaum die Zeit, den neuen Entwurf vor der Abstimmung noch einmal durchzulesen.

Im gleichen Monat beschloss das Parlament die „Weiterentwicklung von Hartz IV“. Arbeitslose, die mehrere Jobangebote ablehnen, müssen seitdem mit härteren Sanktionen rechnen. Hier hatte die Regierungskoalition am Dienstag um vier Uhr nachmittags die letzten Änderungsanträge eingebracht. Mittwochmorgen um neun diskutierte der Fachausschuss das Gesetz, Donnerstag dann die Abstimmung.

Oder dieser Freitag Ende September, als der Bundestag der Einführung des Von-der-Leyen’schen Elterngeldes zustimmte: Bis zuletzt wurde an dem Gesetz herumgedoktert. Noch am Mittwoch davor erschwerte der Familienausschuss in dem Entwurf den Zugang zum Elterngeld für Ausländer, deren Status nicht dauerhaft geklärt ist.

Jüngstes Beispiel: In letzter Minute veränderten die Regierungsparteien ein Gesetz, das eigentlich einen Anspruch für mehr Kindergeld festschrieb, und zwar für Familien und Alleinerziehende, deren Einkommen nur knapp über Hartz-IV-Niveau liegt. Bisher hatte man ein halbes Jahr Zeit, einen Antrag zu stellen. Wegen der Regierungsinitiative muss man das nun in einem Monat schaffen. Für Diana Golze, kinderpolitische Sprecherin der Linksfraktion, wird hier „bewusst in ein laufendes Gesetzgebungsverfahren ohne Vorlaufzeit ein blinder Passagier geschmuggelt“. Der Entwurf wurde ohne weitere Verhandlungen Mitte Oktober dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt.

Pseudodebatten zur Geisterstunde, Gesetzgebungsverfahren im Affentempo, getrickste Gesetze – die Opposition hat kaum mehr als die Medien, um zu Wort zu kommen. Aber immerhin ein Trost bleibt den kleinen Parteien in der Opposition: Ihre Leidenszeit dürfte begrenzt sein. Es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass die große Koalition 2009 neu aufgelegt wird – falls sie überhaupt so lange durchhält.