Abartiges, gequirlt

Wieder einmal reden sich die Verantwortlichen des Hamburger SV eine Niederlage schön, von einer Trainerentlassung wollen sie nichts wissen und bestätigen Abfindungssummen für Thomas Doll

AUS LONDON MARCUS BARK

Rasanter Gedächtnisverlust ist für die meisten Menschen eine schlimme Vorstellung. Im Fußballgeschäft wird das anders gesehen. Da gilt es als ausgewiesenes Zeichen von Stärke. Bernd Hoffmann gab sich am Dienstagabend als ganz starker Mann aus. Den Rücken durchgedrückt, die Arme in die Hüften gestemmt, sagte der Vorstandsvorsitzende des Hamburger SV: „Ich habe die letzten 40 Minuten schon vergessen.“ Er fuhr also mit dem Eindruck ins Hotel zurück, dass der HSV in der Champions League mit 1:0 beim FC Arsenal gewonnen hatte.

Bastian Reinhardt erinnerte sich noch daran, dass die Engländer durch drei Tore in den letzten 40 Minuten die volle Punktzahl holten. Der HSV bleibt damit eine Nullnummer in der europäischen Eliteklasse. Reinhardt aber sagte: „Ich fahre mit sehr viel Stolz in der Brust nach Hause.“ Die Hamburger verklärten zum wiederholten Mal in dieser Saison eine Niederlage, weil sie wohl selbst überrascht waren von ihrer starken Vorstellung in der ersten Halbzeit. Mit neuem, defensiverem System engten sie den Raum für den Finalisten der vergangenen Saison geschickt ein und gingen durch ein traumhaftes Tor von Kapitän Rafael van der Vaart in Führung (4. Minute). Hoffmann sprach daher von einer Partie „auf Augenhöhe“. Dabei half ihm wieder der Gedächtnisverlust, denn als Arsenal nach der Pause zur Normalform und schnellem Angriffsfußball fand, war der HSV ein klar unterlegener, wenn auch tapferer Gegner.

Thomas Doll verschloss sich dem Hochgefühl seines Vorgesetzten Hoffmann, der „nur positive Dinge mitnehmen“ wollte. Der Trainer sagte: „Wenn man 1:3 verliert, ist klar, dass man kein Selbstvertrauen getankt hat.“ Der Trainer wirkte niedergeschlagen. Die Diskussion um ihn wird auch in Kreisen lauter, die weniger zu Hektik und Aufregung neigen.

Am Dienstag überboten sich die Verantwortlichen darin, einen Bericht der Sport Bild über eine unmittelbar bevorstehende Entlassung zu dementieren. Hoffmann sagte: „Einen größeren gequirlten Unsinn habe ich in den vergangenen Wochen nicht gelesen.“ Sportchef Dietmar Beiersdorfer fand den Bericht (den von den Anwesenden im Wortlaut nur der Autor kannte) „fast schon abartig“. Hoffmann nannte eine vertraglich vereinbarte Abfindungsregelung, die inzwischen in verschiedenen Medien als Signal für eine kurz bevorstehende Trennung gewertet wird, üblich. Zudem sei sie in guten Zeiten getroffen worden. Erst jetzt habe der Aufsichtsrat aber danach gefragt.

Ein Ende der Diskussion wird diese Aufklärung nicht bringen. Am Samstag ist der FC Bayern München in der Bundesliga zu Gast. Niederlagen gegen den Rekordmeister werden in der Branche eigentlich entschuldigt. Doch trotz aller Treueschwüre scheint diese Partie über den Arbeitsplatz von Thomas Doll zu entscheiden. Die schon zu lange herbeigesehnte Wende blieb zu lange aus, und in den letzten drei Spielen vor der Winterpause geht es gegen den VfL Bochum, 1. FC Nürnberg und Alemannia Aachen. Bernd Hoffmann sorgte schon ein bisschen vor: „Wir werden auch den FC Bayern nicht abschießen, aber das ändert nichts an der Thematik.“

Die Diskussion um Thomas Doll überschattete auch in London wieder Probleme, die den HSV in die aktuelle Bredouille brachten. Thimothee Atouba ist ein hohes Sicherheitsrisiko. Der Verteidiger aus Kamerun begeisterte, als er mit zirkusreifen Kunststücken die Gegner lächerlich machte. Die Magie ist verflogen. Atouba scheint mit den Gedanken irgendwo zu sein, aber nicht bei der Arbeit. Dass er sein Visum vergaß, passte ins Bild. Das Dilemma des HSV beginnt aber noch weiter hinten. Zweimal half Stefan Wächter die Latte, bei zwei Treffern war er ohne Chance. Als die Prüfung kam, die er hätte bestehen müssen, fiel er gnadenlos durch. „Das war ganz klar mein Fehler“, sagte Wächter zum Schuss von Emmanuel Toure, der ihm sieben Minuten vor Schluss zum 1:2 unter dem Bauch hindurch ins Netz flutschte.

Jens Lehmann bezeugte zwar kein spezielles, aber allgemeines Mitleid. „Es ist ein bisschen schade für die Hamburger in dieser Situation, dass sie nichts mit nach Hause nehmen“, sagte der deutsche Nationaltorwart in Diensten des FC Arsenal, der im abschließenden Spiel beim FC Porto noch einen Punkt zum Weiterkommen benötigt. Der HSV wird die Champions League dann vielleicht schon ganz vergessen haben, auch wenn noch das Spiel gegen ZSKA Moskau ansteht.