Die Verfassungsprozession

SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Neben Jauch ein Käfig: Richard von Weizsäcker rüttelt an den Gittern

■ ist freier Autor für Print und Hörfunk. Zuletzt schrieb Greffrath an dieser Stelle über die Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg, genauer über den Film „En dirigeable sur les champs de bataille (1919)“.

Er lebte nun schon eine Weile in Berlin, war hergezogen, als es Hauptstadt wurde, aber so einen Aufmarsch hatte er noch nicht gesehen. Es erschreckte ihn, und zugleich zog es ihn an. Das waren nicht Tausende, und auch nicht Zehntausende. Die Schlange reichte von der Siegessäule bis zur Spree, ja, weit darüber hinaus. Am Bismarckdenkmal sammelte sich der erste Block: da trommelte und geigte es; eine Gruppe Vietnamesinnen – waren es welche? – tanzte mit Street-Soccer-Teams in grellen Trikots, würdige Türkenväter in schwarzen Anzügen schunkelten dezent mit ihren Kopftuchfrauen. Er zögerte, doch dann mischte er sich unter die Menge. Waren das nicht …? Ja doch: Boateng, Özil, Gomez und Podolski trugen Fotos von Szymaniak, Tilkowski, und Willimowski unter dem Transparent „Hundert Jahre Migration nach Deutschland“. Afrikaner schleppten ein Floß, darauf eine durchlöcherte Blockhütte mit der Hausnummer „16 a“; über dem Portal ein Wort mit drei Buchstabenlücken, sodass nur noch „.S.L.ECHT“ zu lesen war.

Snowden aus Pappmaché

Er lief weiter in Richtung Charlottenburg, immer noch strömten Menschen dem Zug zu. Natürlich war Ver.di stark vertreten. Lehrer marschierten hinter einem Festwagen, auf dem ein Snowden aus Pappmaché mit einem Speer gegen eine Nachbildung des BND-Palastes anrannte. Auf dessen Dach standen zwei Puppen: Schmidt von Google und der Innenminister; ausgerüstet mit Richtmikrofonen, Feldstechern, Computern spähten sie in die Menge, aus dem Tor krochen metergroße Wanzen.

Erzieher trugen Plakate mit Zeilen wie „Bildung für die Ermüdeten und Abgespannten“. Oder „Wir sind immer noch Barbaren. Ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet.“ Die Parolen kamen ihm merkwürdig bekannt und fremd vor, bis er das Schiller-Porträt sah. Daneben ein Spruchband, unter der Ziffer „7“ stand: „Eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern ist kriminell.“

Im nächsten Block war es nicht ganz so verrätselt: Auf dem Wagen des DGB eine gigantische Spielplatzwippe: Die bekannten Figuren mit Bowlerhut und Zigarre beschwerten eine Seite, auf den Rücken ihrer Anzüge die Zahl „14,1!“. Dazu, für die politischen Analphabeten: „Recht auf Eigentum“; oben zappelte eine bunte Schar von Hartz-IV-Gestalten und Kindern und schwenkte Fähnchen mit der Schrift „14,2. Gemeinwohl“. Sie warfen Bonbons in die Menge, auf dem Einwickelpapier las er: „Schon Rathenau war gegen das Erbrecht.“

Einige der Marschierenden erkannten ihn. Schnell drehte er sich um, dem Ende der Manifestation entgegen, aber da war kein Ende zu sehen. Auf Höhe der Universität der Künste brausten Motorräder um ihn herum, gelenkt von Kerlen in Ritter- und Königskostümen; auf dem Sozius modernere Gestalten, er erkannte Frauen in Banker-Anzügen, talkshowgeschminkte Celebrities, McKinsey-Figuren. Eine atemlose Masse von Fahrradfahrern, Skatern, Joggern hechelte hinter ihnen her. Was das sollte, erschloss sich ihm erst, als eine Frau mit roten Haaren ihm zuflüsterte: „Wir sind die Abgehängten des neuen, des Turbofeudalismus.“

Plötzlich stockte der Zug, vorne ging es nicht voran. An der Deutschen Oper standen Buden mit Bratwurst, Döner und Veganem, umringt von Verfassungsrichtern in roten Roben, mit dem Grundgesetz unter dem Arm, auf großen Plakate ihre Urteile über die Transferausbeutung der Familie. Kurz vor der Krummen Straße geriet er in eine Performance: eine nachgestellte Jauch-Talkshow. Auf rollenden Sesseln kauerten verhärmte Gestalten mit Megafonen; aus einer Schäuble-Maske kamen immer wieder die Worte: „Verfassungspatriotismus ist eine zu dürre Grundlage für nationale Solidarität.“ Neben Jauch ein Käfig: Richard von Weizsäcker rüttelte an den Gittern. War er selbst, der gegen die Runde mit heiserer Stimme anbrüllte „Die Verfassung ist kein Papier, sondern eine unendliche Aufgabe“?

Das Grundgesetz hat Geburtstag

Und so ging es weiter, Festwagen für Festwagen. Auf der Plattform des Marburger Bundes stapelten sich Leichen, darunter das Spruchband: „Die ärmsten zehn Prozent krepieren zehn Jahre früher.“ Es wehte eine Fahne: Art. 106 (3). Krankenschwestern verteilten Zettel, darauf: „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse.“

„Die Verfassung ist kein Papier, sondern eine unendliche Aufgabe.“ So einen Aufmarsch hatte er noch nicht gesehen

Noch einmal beschleunigte er seine Schritte. Nein, es war kein Ende abzusehen. Er schwitzte jetzt stark. Ihm entgegen marschierte entschlossen die Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft unter der Parole „Artikel 15: gegen die Spekulation mit dem Land“. Ledige Mütter schoben Babybuggys mit der Aufschrift „6 (4)“; mitten zwischen dem ChaosComputerClub („10!“) und der Initiative „Millionäre für Vermögenssteuer“ („106“) sangen die Veteranen des Oktoberklubs – es gab sie also doch noch – Reinhold Anderts „Lied vom Vaterland“, die inoffizielle Nationalhymne der weiland FDJ: „Kennst Du das Land, wo man was wird auch ohne seine Eltern?“

Als er außer Atem am Funkturm ankam, entrollte sich von dessen Spitze ein Transparent, hundert Meter lang. „Wir fangen erst richtig an“ stand drauf, und unter Willy Brandts Satz prangten die Logos von SPD, Grünen, der Linken. Na ja, dachte er. Aus dem Funkhaus kam Klaus Wiegandt, der ehemalige Metro-Chef. „Ich habe grade ein Interview gegeben“, rief der ihm zu, „wir brauchen nur 300.000 Bürger, die in die toten Parteien eintreten, dann wäre Schluss mit der Erstarrung.“ Zu spät, schoss es ihm durch den Kopf. Er wollte zurücklaufen, doch es gab kein Durchkommen. Zu spät, sagte die innere Stimme wieder. Um ihn herum standen Hunderte Kita-Köchinnen: „70 Cent für Kinderessen – wer hat den Profit gefressen“, skandierten sie. Er hielt sich die Ohren zu.

Das ist kein Traum, dachte er; das ist ein Albtraum. Dann wachte er auf, schweißgebadet. Er schlug auf den Digitalwecker: neun Uhr zwanzig. Der Abgeordnete griff zum Handy und rief den Fahrdienst an. Die Gedenkstunde zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes war für zehn Uhr angesetzt. Über dem Badezimmerboden lag ein Hauch von Maisonne.