Die Weihnachtsgans ist wichtiger als Chodorkowski

PROZESS Über Michail Chodorkowskis Zukunft befindet das Gericht erst nach Weihnachten. „Man will die Medien ermüden“, glaubt die Grüne Marieluise Beck

MOSKAU taz | Der Auftakt zur lang erwarteten Urteilsverkündung im Prozess gegen den Exoligarchen Michail Chodorkowski und den Mitangeklagten Platon Lebedew begann mit einem überraschenden Vorspiel. An der Tür zum Gericht in Moskau klebte am Morgen ein kleiner Aushang mit dem lapidaren Hinweis, die Sitzung sei auf den 27. 12. verschoben.

Ein Grund für die Verlegung wurde nicht genannt, dazu ist ein russisches Gericht auch nicht verpflichtet. Anwälte, Besucher und Presseschar nahmen es mit Humor auf. Tenor der Kommentare: Von der russischen Justiz und ihren politischen Drahtziehern sei man dergleichen schon gewohnt. Nun beginnt die Verlesung des Urteils in aller Stille zwischen den Feiertagen. „Ich bin nicht überrascht“, meinte auch Marieluise Beck von den Grünen, die extra angereist war. „Man will die westlichen Medien ermüden. Schließlich weiß man hier auch, dass dem Westen die Weihnachtsgans wichtiger ist als Chodorkowski.“ Mit der Bekanntgabe des Strafmaßes für die ehemaligen Ölmilliardäre ist frühestens Ende des Jahres zu rechnen. Russland geht ab den letzten Dezembertagen zwei Wochen kollektiv in die Ferien. „Nach zwei Wochen Urlaubssuff ist diese Nachricht schon eine aus dem letzten Jahr“, meint der russische Politologe Nikolai Petrow. Zwar werde man das Urteil nicht vergessen, aber es finde dann keine breite Diskussion mehr statt.

2005 waren die Angeklagten wegen Steuerhinterziehung zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Die zweite Anklage legt den ehemaligen Yukos-Eigentümern zur Last, das Öl, um das es ging, gestohlen zu haben. „Die Anklage wegen Diebstahls ist eine Neuauflage der Klage aus dem ersten Prozess, als Chodorkowski wegen Steuerhinterziehung aus demselben Ölgeschäft verurteilt wurde“, sagt sein Anwalt Wadim Kljugwant. Den Diebstahlsvorwürfen folgte dann die Anklage, das widerrechtlich erworbene Eigentum im Nachhinein legalisiert zu haben. Ein pikantes Detail, das im Prozessverlauf von der Staatsanwaltschaft korrigiert wurde: Die inkriminierte Menge gestohlenen Öls übertraf die reale Fördermenge. Das Verfahren hat politischen Hintergrund. Premier Wladimir Putin wollte 2003 den liberaleren Konkurrenten ausschalten und die Pfründen unter seiner Klientel verteilen. Der herrschenden Elite ist daran gelegen, dass der Opponent auch weiter in Haft bleibt. Chodorkowski hat im Gefängnis Härte und Charakter bewiesen. Ein Märtyrer in Freiheit könnte dem Regime langfristig gefährlich werden. Daher ist mit keinem Freispruch zu rechnen.

Das Urteil wird nun zu einem Test für Kremlchef Dmitri Medwedjew. Dieser war angetreten, die Justiz zu reformieren. Sollte das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen und die Angeklagten nochmals zu sechs Jahren Haft verurteilen, würde sich Präsident Medwedjew unglaubwürdig machen. Das liberale Image würde sich dann als Scheinbild entpuppen.

KLAUS-HELGE DONATH