Merkels Eiskunstlauf

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Pflicht, Kurzprogramm und Kür – Angela Merkel absolvierte den ersten Jahrestag ihrer Vereidigung als Bundeskanzlerin gestern wie eine Eiskunstläuferin. Immer darauf bedacht, gut auszusehen, an der richtigen Stelle das Richtige zu machen und Ausrutscher zu vermeiden.

Die Pflicht war die Rede in der Haushaltsdebatte des Bundestags, die günstigerweise genau zu ihrem Amtsjubiläum anstand. Da die Regierungschefin traditionsgemäß gleich morgens sprechen durfte, konnte sie unter größtmöglicher Aufmerksamkeit, vor allen anderen wichtigen Rednern, eine Bilanz ziehen und die rhetorische Eingangsfrage stellen: „Steht Deutschland heute besser da als vor einem Jahr?“

Die Antwort fiel Merkel dank steigender Wachstumsdaten und sinkender Arbeitslosenzahlen leicht. „Ich finde, das sind gute Daten“, sagte sie, ohne Überschwang, aber selbstbewusst und zum Wohlgefallen auch der SPD. Wie bei Regierungserklärungen üblich, trat sie betont seriös und als Politikerin auf, die sich der gesamten Koalition verpflichtet fühlt, nicht nur der eigenen Partei. Um den Verdacht auszuräumen, die Regierung wolle sich auf den guten Daten ausruhen, erklärte Merkel, es gebe „noch sehr, sehr viel zu tun“, und nannte weiteren Schuldenabbau sowie die Umsetzung der bereits beschlossenen Unternehmens- und Erbschaftsteuerreformen – wer aus der SPD sollte da widersprechen? Fraktionschef Peter Struck tat es nicht und gratulierte Merkel artig zu ihrem Jubiläum. Dass er keine Blumen dabei hatte wie CDU-Kollege Volker Kauder, blieb der einzige Schönheitsfehler der schwarz-roten Harmonieshow.

Für einige Ausführungen zur Außenpolitik erntete Merkel auch von der Opposition Zustimmung – vor allem für ihre Zusicherung, die Bundeswehr nicht stärker im Süden Afghanistans einzusetzen. Dabei, stellte die Kanzlerin klar, gehe es ihr nicht darum, die eigenen Soldaten im vermeintlich ruhigen Norden vor Risiken zu schützen. Deutlicher als bisher distanzierte sie sich von dem Vorgehen der Nato-Partner im Süden. „Es kann keine rein militärische Lösung geben“, sagte Merkel und betonte, Deutschland bleibe bei seinem Konzept, neben dem Einsatz von Soldaten auch bei der Ausbildung der afghanischen Polizei und beim zivilen Aufbau des Landes zu helfen. Militär sei nötig, so Merkel, „aber man muss auch kämpfen können um die Herzen der Menschen in Afghanistan“. Nur aus diplomatischer Zurückhaltung nannte sie jene nicht beim Namen, die dies aus ihrer Sicht offenbar versäumen: USA und Großbritannien.

Innenpolitisch aktuelle Streitthemen wie den Vorschlag ihres Parteivizes Jürgen Rüttgers zum großzügigeren Arbeitslosengeld für Ältere sparte Merkel in ihrer Rede ganz aus. Penibel achtete sie darauf, im Parlament keine Ankündigungen zu machen, die in der Koalition noch nicht verabredet wurden. Ihr persönliches Kurzprogramm für die Zukunft zu verkünden, hob sich Merkel für ein Bild-Interview auf. Dort erklärte sie, dass sie einige Dinge angehen möchte, „die so noch nicht im Koalitionsvertrag stehen“, etwa Überlegungen zu einem „gemeinsamen Markt von Amerika und Europa“ mit harmonisierten Finanzmarktregeln.

In ihrer Funktion als CDU-Chefin versuchte Merkel, vor dem Parteitag in der nächsten Woche alle Flügel zu erfreuen. „Zugunsten der Arbeitnehmer“ strebe sie eine Beteiligung der Angestellten an den Kapitaleinkünften ihrer Unternehmen an. Ein Vorschlag, der auf dem Parteitag beschlossen wird und aus Merkels Sicht auch „ein Projekt für die Koalition sein könnte“.

Dem Wirtschaftsflügel versicherte Merkel, dass sie an den Leipziger Beschlüssen von 2003 samt Kopfpauschalen festhält.

Und die Kür? Merkel erzählte den Bild-Lesern, dass sie ihrem Mann nach wie vor das Frühstück zubereite – und dass ihr das Regieren „Freude macht“. Gestern konnte man es glauben.