Kalkulierter WM-Boykott des Junggroßmeisters

SCHACH Trotz Turniersieg weiß Magnus Carlsen, dass er noch nicht zum ganz großen Champion taugt

Der Aufregung rund um die 64 kleinkarierten Felder dürfte jetzt Verständnis weichen. Die Schach-Fans verstehen langsam, warum Magnus Carlsen aus dem WM-Zyklus ausgestiegen ist. Die Argumente lieferte der Jungstar bei der London Chess Classic selbst – auf dem Brett. Der 20-Jährige strich 50.000 Euro Siegprämie ein und doch wurde klar: Er ist noch nicht so weit.

Carlsen lag nach den sieben Runden nur dank der im Schach unüblichen Dreipunkteregelung vorne. Auf die Frage, ob er diese nun möge, gestand der Fußball-Fan: „Jetzt mit Sicherheit!“ Dank der vier Siege und einem Remis ging der Norweger mit 13 Punkten vor dem Inder Viswanathan Anand und der britischen Überraschung Luke McShane (beide 11), Hikaru Nakamura (USA) und dem Russen Wladimir Kramnik (beide 10) über die Ziellinie. Nach herkömmlicher Zählweise wäre Carlsen zwar wie Weltmeister Anand und McShane auf 4,5:2,5 Zähler gekommen – aber durch die Niederlagen im direkten Vergleich gegen die beiden ungeschlagenen Großmeister hätte er nur Rang drei belegt.

Carlsen wird ab 1. Januar nun wieder als Weltranglistenerster geführt. Weltmeister wird er so schnell nicht werden. Er boykottiert die WM. Carlsen beklagte „permanente Änderungen“ der Regularien des Schach-Weltverbandes Fide. „Es strengt mich zu sehr an, mich dauernd mit den politischen Entscheidungen zu befassen.“

Zwei Punkte kritisiert Carlsen in seinem offenen Brief an die Fide besonders: dass Weltmeister Anand gesetzt ist und auf seinen Herausforderer wartet. Den ermitteln die Weltbesten in Zweikämpfen im K.-o.-Modus. Beides will der Weltranglistenzweite durch ein einziges Turnier ohne Privilegien für den Titelverteidiger ersetzt sehen – im Fußball müsse der Weltmeister schließlich auch unter gleichen Bedingungen wie alle anderen antreten.

Der Weltranglistendritte Lewon Aronjan widerspricht: „Wir sind nicht beim Fußball. Schach ist was anderes, auch unsere WM-Tradition.“ Auch Anand stimmt es „traurig“, dass sein Rivale das Rennen um das WM-Finale in London 2012 vorzeitig aufgab.

Vielleicht hat Carlsen aber auch eine eigene Erkenntnis zum Ausstieg gebracht? Dass es nämlich gegen die ganz Großen in Zweikämpfen nämlich noch nicht reicht. Bei den Chess Classic kassierte er nicht nur eine empfindliche Niederlage gegen Anand. Der Inder baute seine Bilanz 2010 in Turnierpartien damit auf zwei Siege und vier Unentschieden aus. Noch schlimmer sieht es für den Norweger gegen Kramnik aus. Der Weltranglistenvierte überspielte ihn mit leichter Hand, versäumte es dann aber, die haushohe Gewinnstellung heimzuschaukeln. Seine Jahresbilanz gegen Carlsen: 3:1! Der 20-Jährige gewann die Chess Classic nur deshalb, weil er die vier Schlusslichter schlug – und bei einem WM-Turnier mit vielen Spielern hätte Carlsen auch genügend Kanonenfutter, um doch vor Anand und Kramnik zu landen.

HARTMUT METZ