WITTENAU, 1 MINUTE
: Duell verloren

Der Zug fuhr nicht. Er blieb einfach stehen

Die BVG oder ich? Das ist das tägliche Duell in der U-Bahn. Ich renne die Treppe runter, und dann kommt die Stelle, an der es ein bisschen wie bei der Oscar-Verleihung oder der Lotto-Ziehung ist: wenn die elektronische Anzeige in den Blick gerät. Neulich stand da Wittenau in 1 Min. Treffer, dachte ich, nicht zu früh, nicht zu spät. Die letzten Schritte kann ich flanieren und wenn ich am Bahnsteig bin, kommt der Zug.

Die besondere Genugtuung aber, sozusagen die Lotto-Zusatzzahl, war die zweite Zeile. Da stand: Wittenau in 6 min. Das heißt, eine Minute später dran, und ich hätte fünf Minuten warten müssen. Fünf Minuten Rumstehen auf dem Bahnsteig! Ich weiß, ich bin Sklave kapitalistischer Effizienzdiktatur. Als ich in der Bahn stand, war ich froh, der Zeit und der BVG ein Schnippchen geschlagen zu haben. Aber die BVG schlug zurück.

Der Zug fuhr nicht. Er blieb einfach stehen. Fahrgäste guckten unruhig aus dem Zug. Man hörte eilig tappende Schritte von Leuten, die statt einer 1 vor dem Min einen stehenden Zug sahen und schnell runterkeuchten, um ihr Duell zu gewinnen. Auch sie gingen in die Falle. Die Schnell-Tapser, ich und all die anderen Sklaven mussten warten. Das Schlimmste dabei: Die Differenz zum Folgezug schmolz. Der kam jetzt auch in 1 Min. Den U-Bahn-Oscar musste ich zurückgeben, der Lottotreffer war ein Versehen.

Ich lugte aus dem Zug und meinte zu sehen, wie eine Frau in dunklem Blouson angeeilt kam und zum Zugführer stieg. Zugführerwechsel? Die Frau des Zugführers? Jedenfalls fuhr die Bahn dann los. Ein Dienstleistungs-Zugführer hätte beim Warten durchsagen können: Mein Schichtwechsel hat Verspätung, wir bitten um Entschuldigung. Oder: Ich warte auf meine Frau, haben Sie Geduld. Aber die BVG sagte nichts. Sie wollte wohl ihren Duellsieg nicht schmälern.

GUISEPPE PITRONACI