Karl May mit ungewollter Ironie

REISELITERATUR Schräge Geschichten aus dem alten Orient

Ein ungefiltertes Zeitzeugnis, gefärbt nur von der schlechten Laune des Autors

Es ist die überraschendste, unterhaltsamste und trockenste Reiseliteratur: „Die wundersamen Irrfahrten des William Lithgow“. Das tapfere Schneiderlein aus Schottland zog zum ersten Mal 1609 in die Welt hinaus. Wegen Liebeshändeln waren ihm die Ohren abgeschnitten worden. Das soll der Grund seiner drei Reisen in den Orient gewesen sein: Denn der Turban verdeckte die sichtbare Schmach. Als „Odysseus der Misanthropen“ bezeichnet ihn Roger Willemsen, der Herausgeber seiner Reiseaufzeichnungen von 1632 auf Deutsch. Ob in Paris, Bethlehem oder Fes – mit scharfem Blick beschreibt Lithgow seine Erlebnisse, Abenteuer und Anfechtungen. So entsteht ein ungefiltertes Zeitzeugnis, gefärbt nur von der schlechten Laune des Autors. En passant, trocken und lakonisch beschreibt er die unglaublichsten Dinge, beispielsweise über das marokkanische Fes: „Das Schlimmste ist, dass im Sommer dreitausend Lustknaben in den Straßen ihre Dienste anbieten. Ich selbst habe gesehen, wie Männer am helllichten Tag mitten auf dem Marktplatz ihre Lust an diesen verderbten Knaben befriedigten, ganz ohne Scham oder Angst, und danach unbekümmert weitergingen.“ Und auch Lithgow scheint unbekümmert immer weiterzureisen – er wird Opfer der spanischen Inquisition, er trotzt Schiffbruch, Überfällen und Betrug, er erlebt Hinrichtungen, Verbrennung, Ersäufnisse und Sklavenhandel. Lithgow ist ein unterhaltsamer Chronist, dabei völlig frei von Romantik und Effekthascherei. Und er täuscht nie darüber hinweg, dass das Reisen eigentlich ein verdammt mühseliges Geschäft ist. EDITH KRESTA

■  Roger Willemsen (Hg.): „Die wundersamen Irrfahrten des William Lithgow“. Übersetzt von Georg Deggerich. Mare, 2009, 381 Seiten, 24 Euro