„Diese Welt schwankt“

Hans Neuenfels, dessen „Idomeneo“ zuletzt für Wirbel sorgte, inszeniert nun Mozarts „Zauberflöte“. Ein Gespräch über das Brodeln unter den Noten und das Recht, sich im Diesseits zu verwirklichen

INTERVIEW NIKOLAUS HABLÜTZEL

taz: Herr Neuenfels, heute Abend hat ihre Inszenierung der „Zauberflöte“ von Mozart an der Komischen Oper Berlin Premiere. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Das Stück ist reaktionär. Was machen Sie daraus?

Hans Neuenfels: Ich versuche, es rein aus der Musik heraus zu interpretieren. Ich will Mozart zuhören und verstehen. Was das Libretto angeht, bin ich ohnehin immer skeptisch. Wenn es den Komponisten entzündet, finde ich es gut, sonst nehme ich es als Notwendigkeit hin. Ein Genie kann einfach nicht reaktionär sein, das ist meine ganz allgemeine These. Was die „Zauberflöte“ betrifft, glaube ich, dass wir all die Dinge, die den Anschein des Reaktionären erwecken, deswegen eliminieren konnten, weil Mozart selbst sehr wohl darum wusste. Er untersucht diese Aspekte und löst sie auf. Das ganze Priestertum, die Ansichten über Frauen und Weisheit …

Das meinte ich mit „reaktionär“.

Ich weiß, was Sie meinen! Aber wenn man alles das ganz aus der Musik heraus entwickelt, kommt man darauf, dass Mozart sie wirklich abgrundtief bissig, schelmisch, witzig, und man kann ruhig sagen: kritisch komponiert hat. Und so wird es auch inszeniert.

Trotzdem hat sich Mozart von diesem Stoff inspirieren lassen, vom Sieg des männlichen Sarastro-Ordens über das mythologisierte Weibliche der Königin der Nacht.

Deswegen haben wir den Text zum Teil neu formuliert und mit Schauspielern besetzt, die das Geschehen miterleben, möglichst komödiantisch kommentieren und kritisieren. Und die Regisseurin, die das Spiel vorantreibt, ist eine Frau, um es nicht so männerlastig zu machen. Aber das ist nur möglich, weil Mozart alles schon in der Musik komponiert hat. Zum Beispiel gibt es ein berühmtes kleines Duett: „Bewahret euch vor Weibertücken“, in dem die Priester vor den Frauen warnen. Meistens wird das gestrichen, weil die Leute meinen, dass es mit der hehren Welt Sarastros nichts zu tun habe. Uns kommt das natürlich sehr gelegen, bei uns sind die Priester keine höhere Ebene, sondern genau so schrullig, absonderlich, gefährdet, verletzt, irritiert – auch Sarastro – wie beispielsweise Papageno, Tamino oder Pamina. Die Figuren werden einzeln betrachtet. Sie befinden sich alle in einer Schlucht des Ausgesetztseins, des Nackten, Blanken, und alle haben, wenn man so will, jene Schäden, die auch wir in unserem Leben haben, und versuchen wie wir mit irgendwelchen Tricks davonzukommen.

Eine Satire also?

Es ist wie bei Shakespeare eine gnadenlose Betrachtung der Welt in verschiedenen Schichten, wobei das Satirische und die Farce bei Mozart sehr weit reichen und eine große Bedeutung haben in dem Weltspiegel, den er uns zeigen will. Darunter fallen die Priester und ihr Begriff der Weisheit, aber es gibt auch bewusst pathetische, ernsthafte Musik, etwa der Selbstmordversuch von Pamina. Die Missverständnisse in den Gefühlen der Personen sind sehr ernst gemeint und tief, aber das Ganze durchfunkelt immer das Wissen eines Mannes, nämlich Mozarts, um die Hinfälligkeit und Zweifelhaftigkeit der Existenz. Die Musik schafft sich ihren eigenen Weg hin zu einem zarten Anarchismus, in dem die Begriffe klargestellt werden.

Im Ohr bleiben doch aber auch diese feierlichen Akkorde, die Mozart vor die Tempel Sarastros hingestellt hat.

Meistens steht dazu auf der Bühne alles gewandet um Sarastro herum, und es bewegt sich gar nichts. Das ist absurd, denn der motorische Impuls der Musik, der schnelle Wechsel von Zuständen in den Personen, geht weiter. Es kommt zu menschlichen Grotesken, etwa wenn Sarastro zu Pamina sagt: „Die Liebe will ich nicht erzwingen, doch die Freiheit gebe ich dir nicht.“ Das finde ich in der Musik wieder, und ich habe mir dafür einen eigenen Satz zurechtgereimt: „Unter das Gutsein geduckt heißt auf das Leben gespuckt.“ Ich wollte ihn zuerst als Schrift einblenden, fand das dann aber zu belehrend. Diese Mühe, gut zu sein, und die Widersprüche, in denen die Leute damit scheitern, sind alle in Mozarts Musik enthalten. Aber leider nicht im Text. Der große Irrtum der meisten Inszenierungen besteht darin, zu glauben, Mozart habe Schikaneders Text komponiert. Nein, er hat seinen eigenen Text komponiert.

Mit Ihren eigenen, neuen Texten sind Sie noch einen Schritt weitergegangen.

Ja, um diese Dimension sinnlich wahrnehmbar zu machen, neue Perspektiven zu öffnen und die Klischees zu unterwandern. Es liegt an der Form des Singspiels, dass die Sänger meistens ganz allein singen. Jetzt sind sie begleitet von den Schauspielern, es kommt zu Störungen …

Wer ist die Königin der Nacht?

Sie will mit aller Macht die Herrschaft der Frauen zurückgewinnen. Aber sie bekommt sie nicht, Sarastro hat gewonnen. Das ist eine ganz einfache Geschichte; viel interessanter für mich war, was Mozart mit diesen unglaublich virtuosen Arien gemeint hat. Es geht um den Begriff der Höchstleistung, und Mozart will zeigen, wie unmenschlich das ist. Deswegen bricht die Königin der Nacht bei mir immer wieder zusammen. Sie schafft gerade noch diese Höhepunkte und ist danach mit den Nerven fertig. Die Figur löst sich in ihre Bestandteile auf, sie verliert Glieder.

Das zeigen Sie auch?

Ja! Ich glaube, dass man Mozart nur begrifflich inszenieren kann. Er war so weit, dass er alle möglichen Topoi nahm, Begriffe also, und sie miteinander zerrieb – immer wunderbar schön klingend. Aber das täuscht eben. Jahrhunderte lang hat man geglaubt, das sei eine in sich geschlossene, ruhende, gekünstelte Welt. Das ist jetzt meine fünfte Mozart-Inszenierung und ich habe entdeckt, dass es eine höchst verletzliche, schwankende Welt voller raffinierter Fallgruben ist.

Mozarts Oper „Idomeneo“ ließen Sie mit der Enthauptung von vier Religionsstiftern enden. Gehört in diese Reihe nicht auch Sarastro?

Die Konstellation ist anders. Idomeneo steht für sich allein da, Sarastro für eine Gruppe. Idomeneo kann radikal sein, Sarastro dagegen ist durch die Institutionalisierung des Guten bedeutend schmerzhafter verletzt worden. Bei mir stirbt er am Schluss, er hält das einfach nicht mehr aus, so gut sein zu müssen.

Es ist nahe liegend, Mozart im Zusammenhang der Aufklärung zu sehen. Es geht um die Befreiung des Subjekts.

Auch in der „Zauberflöte“ wird jede Art von Fremdbestimmung abgelehnt, aber es ist nicht mehr ein Einzelschicksal wie in „Idomeneo“, sondern eine Vielzahl von Einzelfiguren, die alle ihre eigenen Erfahrungen machen. Ich nehme deshalb Taminos Prüfungen sehr ernst. Er lernt dabei sich selber besser kennen.

Man könnte aber an der „Zauberflöte“ auch den blinden Fleck der historischen Aufklärung erkennen. Es soll eine Ersatzreligion der Vernunft installiert werden.

Das kann man eben gar nicht früh genug kritisieren. Adornos Buch ist leider sehr spät erschienen.

Eine vorweggenommene „Dialektik der Aufklärung“ also. Wie politisch kann heute eine Aufführung von Mozart sein? Nicht erst, wenn sie abgesetzt, sondern wenn sie gespielt wird?

Meine Inszenierung der „Zauberflöte“ plädiert dafür, den Menschen, der nach Mozarts Meinung eine absolute Fehlkonstruktion ist, voller Selbstbewusstsein mit all seinen Schwächen hinzunehmen. Die Musik stößt zum Kern der Persönlichkeit vor, und legt sie bloß, aber nicht im kalt enthüllenden Sinn, sondern sie zeigt unsere Kreatürlichkeit, auf die wir ein Recht haben – mit all unseren Tricks, mit denen wir uns zu helfen versuchen. Wir haben ein Recht darauf, uns im Diesseits zu verwirklichen, und sollten uns niemals mit irgendwelchen höheren Ebenen trösten lassen.

Am 18. Dezember wird Ihre Inszenierung des „Idomeneo“ doch wieder an der Deutschen Oper gespielt. Gehen Sie hin?

Nein, ich finde, es reicht, dass sie gespielt wird. Immerhin hat die Absetzung dazu geführt, dass Frau Merkel gesagt hat, was wir zu verteidigen haben. Beim Streit um die Karikaturen war das nicht so. So weit bin ich ganz zufrieden.

Sie vertrauen ganz allein Mozarts Musik, die bekannt genug ist. Wie schaffen Sie es, so viel herauszuhören?

Wenn immer ich Musik höre, ob nun Mozart oder Verdi, Zimmermann, Schreker und die Noten analysiere, mache ich immer wieder unglaublich klare Erfahrungen. Was bedeutet an dieser Stelle C-Dur, wo es nach der Story eigentlich anders sein müsste? Was bedeutet eine Kantilene bei Verdi, die für mich immer für Utopie steht? Ich gehe immer von dort aus zum Text zurück. Im zweiten Akt der „Zauberflöte“ zum Beispiel gibt es ein Terzett zwischen Sarastro, Pamina und Tamino, das so harmonisch klingt, dass es meistens gestrichen wird. Man hat offenbar Angst vor dem hier unpassenden Gleichklang. Dabei brodelt es unter den Noten, man kann musikalisch nachweisen, dass nur eine Art Überbelastung der Harmonie die Stimmen zusammenhält. Mit dieser Erkenntnis kann ich diese Szene als Zuspitzung der gegenseitigen Beziehungen inszenieren, nämlich so, dass sie es nur mit Hilfe dieses scheinbaren Gleichklangs gerade noch miteinander aushalten.

Möchten Sie es am liebsten selbst dirigieren?

Oh ja! Aber ich inszeniere es auch sehr gerne.