Irak in der Spirale der konfessionellen Gewalt

Nach Anschlägen auf Schiiten in Bagdad mit über 200 Toten am Donnerstag kommt es zu Racheangriffen auf Sunniten. Politische und geistliche Führer rufen zur Einheit auf. Die Regierung verhängt eine Ausgangssperre über Bagdad

Schiiten sollen „Selbstkontrolle üben und nicht auf illegale Weise reagieren“

BEIRUT taz ■ Massenmord zwischen den konfessionellen Gruppen des Iraks gehört inzwischen zur Tagesordnung. Die mindestens 215 Toten der Anschlagserie vom Donnerstag im schiitischen Armenviertel Sadr City in Bagdad waren noch nicht begraben, da kam es gestern zu Racheakten. Bei Angriffen auf ein sunnitisches Viertel wurden gestern vier Moscheen in Brand gesetzt, mindestens 18 Menschen wurden getötet. „Sie haben Panzerfäuste auf die Moscheen geschossen und aus Maschinengewehren gefeuert“, berichtete ein Anwohner.

Bereits am Donnerstag war als Reaktion auf die Anschläge in Sadr City die Abu-Hanifa-Moschee, das höchste Heiligtum der Sunniten in der Hauptstadt, und das Büro der sunnitischen Vereinigung Muslimischer Geistlicher mit Granaten angegriffen worden. Mindestens zehn Menschen kamen ums Leben. In Tal Afar im Nordwesten des Iraks rissen gestern Bomben 22 Menschen in den Tod.

In Sadr City wurden gestern die Toten vom Donnerstag zu Grabe getragen, die durch fünf in kurzer Folge gezündete Autobomben umgekommen waren. Tausende Männer, Frauen und Kinder begleiteten die Fahrzeuge mit den Särgen, bevor sie zu ihrer letzten Ruhestätte in die für Schiiten heilige Stadt Nadschaf im Süden des Landes transportiert wurden. Ministerpräsident Nuri al-Maliki wies die Polizei an, den Trauerzug vor Anschlägen zu sichern.

Damit die Lage nicht noch mehr außer Kontrolle gerät, hatte er am Donnerstag eine Ausgangssperre über Bagdad verhängt. Die Flughäfen von Bagdad und Basra und der einzige Hafen des Landes in Basra wurden „bis auf Weiteres“ geschlossen. Maliki mahnte zur Ruhe. „Wir wenden uns gegen jede Tat, die darauf abzielt, die Einheit der Nation zu zerstören“, erklärte er in einer Fernsehansprache.

Wie real der Bürgerkrieg ist, zeigten auch die gemeinsamen Aufrufe von führenden schiitischen, sunnitischen und kurdischen Politikern, jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren. Der höchste schiitische Rechtsgelehrte, Großajatollah Ali al-Sistani, der sich normalerweise nicht ins politische Tagesgeschäft einmischt, forderte die Schiiten auf, „Selbstkontrolle zu üben und nicht auf illegale Weise zu reagieren“. Gleichzeitig wandte sich der Schiitenführer Muktada al-Sadr an seine Anhänger in Sadr City mit einer Erklärung, die auch zeigt, dass er Angst hat, die Kontrolle über seine eigenen Mahdi-Milizen völlig zu verlieren. „Unternehmt nichts, ohne die geistlichen Führer zu fragen. Es ist immer besser, derjenige zu sein, der ungerecht behandelt wird, als derjenige, der ungerecht handelt“, appellierte er.

Welche Ausmaße die konfessionellen Auseinandersetzungen im Irak inzwischen angenommen haben, zeigt auch ein weiterer Angriff am Donnerstag auf das irakische Gesundheitsministerium, der später von den Autobomben in Sadr City überschattet wurde.

Als Rache für einen früheren Angriff auf das von Sunniten kontrollierte Ministerium für Höhere Bildung hatte die sunnitische Guerilla das von Anhängern des Schiitenführers Muktada al-Sadr kontrollierte Gesundheitsministerium umstellt, mit Granaten beschossen und jedem der dortigen 2.000 Angestellten, der sich aus dem Gebäude wagte, mit Erschießen gedroht.

Die Wächter des Ministeriums, die wahrscheinlich der Mahdi-Miliz angehörten, konnten die Guerilla zwei Stunden lang durch einen anhaltenden Schusswechsel davon abhalten, das Gebäude zu stürmen. Dabei kamen ein Dutzend Menschen ums Leben. Am Ende gelang es nur mit Hilfe des Einsatzes von Kampfhubschraubern, die sunnitische Guerilla zum Rückzug zu zwingen.

Unterdessen verhärten sich die politischen Fronten auch innerhalb der irakischen Regierung. Anhänger Muktada al-Sadrs drohten, ihre parlamentarischen Mandate niederzulegen, sollte sich Ministerpräsident Maliki wie angekündigt nächste Woche in der jordanischen Hauptstadt Amman mit US-Präsident George Bush treffen. Der Sadr-Block stellt einen wichtigen Verbündeten Malikis im Parlament dar. Einer der Sadr-Abgeordneten, Kusai Abdul Wahab, machte in einer Erklärung die US-Armee für die Toten von Sadr City verantwortlich. „Für uns tragen die Besatzer die volle Verantwortung und wir rufen dazu auf, endlich einen Zeitplan für den Abzug der Besatzungstruppen vorzulegen“, heißt es dort. Der Sadr-Block hält 30 der 275 Sitze im Parlament.

Damit steckt die Regierung Maliki in einem Dilemma. Al-Maliki muss seine innenpolitischen Bündnispartner halten, ohne die USA vor den Kopf zu stoßen. KARIM EL-GAWHARY