Die Zickzackpartei

Lebenslügen? „Vom Grundsatz her hat Rüttgers recht“, sagt der CDU-Chef in Sachsen-Anhalt

AUS BERLIN, HALLE UND BLUMBERGLUKAS WALLRAFF

Seine Chefin regiert seit einem Jahr. Ronald Pofalla hat zur Feier von Angela Merkels Dienstjubiläum eine lange Liste in die Berliner CDU-Zentrale mitgebracht. Eine Liste der Erfolge. „Deutschland steht besser da als vor zwölf Monaten“, sagt er und lächelt. Der Generalsekretär der Regierungspartei zählt alle Daten auf, die man als positive Ergebnisse der Regierungspolitik verkaufen kann. Es sind eindrucksvolle Daten: Die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Konjunktur zieht an, der Staat macht weniger Schulden. Pofalla erinnert daran, was die große Koalition bereits geschafft hat. Die Unternehmenssteuersenkung. Das Elterngeld. Die Verschärfungen der Hartz-IV-Gesetze. Alles Veränderungen, die nicht gerade linkem Gedankengut entspringen und die man durchaus als Erfolge für die CDU verbuchen könnte. „Die Arbeit“, sagt Pofalla, „hat sich gelohnt.“ Und er hat auch ein schönes Plakat dabei: ein alter VW-Käfer mit Deutschlandfahne. „Deutschland kommt in Fahrt“, steht darauf.

Alles könnte so schön sein, doch Pofalla hat ein Problem. Ein großes. Für die CDU hat sich die Arbeit eben nicht gelohnt. Deutschland mag es besser gehen, aber die Union steht schlechter da als vor zwölf Monaten. Viel schlechter. So schlecht wie nie seit Helmut Kohls Spendenskandal. In letzten Umfragen vor dem Parteitag, der am Montag in Dresden beginnt, lag sie bei 29 Prozent. Es muss sich etwas ändern. Nur was?

Manche meinen, die Union müsse „das Soziale“ stärker betonen. Am lautesten sagt das Jürgen Rüttgers, der Parteivize aus Nordrhein-Westfalen. Schon im Sommer sprach er von „einigen Lebenslügen“, von denen sich die Union endlich verabschieden müsse. Es stimme einfach nicht, dass Steuersenkungen und niedrigere Lohnkosten automatisch zu mehr Arbeitsplätzen führten. Das war starker Tobak, ein Angriff auf die wirtschaftspolitischen Grundsätze der CDU. Auch sein Vorstoß, das Arbeitslosengeld I an Ältere länger auszuzahlen, klingt für viele neu und sozial. Weil Kanzlerin Merkel nicht gleich abgewunken hat, geistert das Wort vom „Linksruck der Union“ durch Medien und Parteigremien. Sollte die CDU Rüttgers folgen? Etwa 80 Prozent der Deutschen befürworten seinen Vorschlag. Auch an der Basis der Union überlegt man, ob Rüttgers nicht doch ein wenig recht hat.

Halle-Neustadt an einem kalten Novemberabend. Die wichtigsten CDU-Politiker von Sachsen-Anhalt treffen sich bei der Mitgliederversammlung der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft des Landes, kurz CDA. Auf dem Weg vom mit Graffiti übersäten Tiefbahnhof zum Tagungsort kommt man an sechs grauen Plattenbauhochhäusern vorbei. Sie waren einmal gehobener DDR-Standard. Alle Wohnungen stehen heute leer. Das neue Intercity-Hotel wirkt daneben wie eine Oase. Doch auch drinnen wird die soziale Wirklichkeit nicht ausgeklammert. Das Thema der Veranstaltung klingt deprimierend: „Arbeit ohne Lohn – Was ist der Mensch noch wert?“ Der Gastgeber, das wird schon bei seiner Begrüßungsrede klar, hat auf diese Frage keine Antwort. Er sucht sie. Dringend.

Uwe Bruchmüller ist CDA-Landeschef, 43 Jahre alt, Schnauzbartträger und hauptberuflich Bezirksleiter bei der Industriegewerkschaft Chemie und Energie. Er liest vom Blatt ab. „Einfache Arbeit wird immer weniger, Maschinen ersetzen den Menschen“, klagt er. Die wenigen Jobs, die noch angeboten würden, seien viel zu schlecht bezahlt.

Bruchmüller spricht leise. Er ist alles andere als ein Redetalent, aber jeder seiner Sätze hört sich an wie eine Anklage – auch gegen die eigene Partei. In ganz Sachsen-Anhalt sind 16,5 Prozent der Menschen ohne Job, in einigen Gegenden hat jeder Fünfte keine Arbeit. Daran ändert auch der leichte Aufschwung wenig. Die Lage ist ernster als in Nordrhein-Westfalen, wo die Quote elf Prozent beträgt. Rüttgers habe recht, sagt Bruchmüller. Recht damit, ein sozialeres Profil der Union zu fordern. „Es gibt in unserem Land durchaus die Angst, dass der Mensch nichts wert ist.“ Und darauf müsse die CDU eingehen.

Der Hallenser Bürgermeisterkandidat macht das gleich in seinem Grußwort. Bernhard Bönisch spricht pastoral vom „Fegefeuer, durch das wir uns täglich kämpfen müssen“, und trägt anschließend das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor. „Wir sollten das beherzigen in unserer Politik“, sagt er. Die Samariter, das seien übrigens „damals die ungeliebten Ausländer“ gewesen. Fremdenfeindlichkeit schüren, so wie früher häufig üblich – für die CDU in Halle offenbar keine Lösung. Aber welche hat sie? Hat sie eine?

Es überrascht kaum, dass CDA-Chef Bruchmüller für eine arbeitnehmerfreundliche Politik eintritt und den in der Union ungeliebten Kündigungsschutz verteidigt. Aber nicht nur er, auch die Parteiprominenz rüttelt kräftig an Tabus der CDU. Mindestlöhne müssen her, das scheint hier schon Konsens. Selbst der sachsen-anhaltische Wirtschaftsminister Reiner Haseloff (CDU) sagt, er sei „nicht grundsätzlich gegen eine Diskussion um Mindestlöhne“, so „um die sechs Euro“ könne er sich vorstellen. Auf dem Podium geht es schon nur noch um die Höhe.

Thomas Webel, der CDU-Landeschef, könnte jetzt seine Parteifreunde bremsen. Schließlich drohen sie von der reinen Lehre abzuweichen. Doch er feuert sie noch an. „Wir haben vor einigen Jahren Beschlüsse in Leipzig gefasst“, sagt Webel, „wo das Soziale etwas in den Hintergrund gedrängt wurde.“ Auf dem Parteitag 2003 hatte sich Merkel auf radikale Steuersenkungen und Kopfpauschalen im Gesundheitssystem festgelegt. Webel erinnert an einen altgedienten Parteifreund – der habe damals schon prophezeit: Das werdet ihr noch überdenken. „Norbert Blüm hatte recht“, sagt Webel, „wir haben angefangen, diese Beschlüsse zu überdenken.“

Wer ist wir? Die CDU? Pofalla würde das bestreiten. „Leipzig gilt weiter“, gibt Pofalla in Berlin als offizielle Linie vor, auch Merkel hat dies bereits betont. Doch Pofalla ist nicht hier in Halle, die anwesenden Parteifreunde nicken Landeschef Webel zu, und der geht noch weiter. Nicht, dass er Merkel kritisieren würde, gegen „die Chefin“ sagt hier niemand etwas. Aber Webel erinnert an Rüttgers’ „Lebenslügen“-Vorwurf. Er würde dieses Wort so nicht verwenden, sagt er, so viel Parteidiszplin muss sein. „Aber vom Grundsatz her hat er recht.“

Wenn man Webel, Bruchmüller und ihre Kollegen so sprechen hört, könnte man meinen, die CDU wolle auf ihrem Parteitag in Dresden tatsächlich die Richtung wechseln. Doch die Parteiführung in Berlin hält an den alten Glaubenssätzen fest. Getreu dem Credo: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch den Arbeitnehmern gut“, setzt sie die nächste Senkung der Unternehmenssteuer durch. Rüttgers hat dagegen interessanterweise auch nicht protestiert, in der Führung der Union gilt er trotzdem als Ketzer.

Auf seine Thesen reagieren die Berliner Granden höchst allergisch. „Robin Hood“, „Arbeiterführer“ – an spöttischen Bezeichnungen für den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten herrscht kein Mangel. „Der verbreitet doch selber noch viel schlimmere Lebenslügen“, sagt ein CDU-Regierungsmitglied. „Der tut so, als könnte alles wieder so wie früher werden.“ Die Frage ist, wer hier eigentlich in der Gegenwart angekommen ist. Allianz, Deutsche Bank, Siemens – dass florierende Unternehmen trotz niedriger Steuern und Rekordgewinnen tausende Leute feuern und in die Sozialsysteme entlassen, ist nun einmal Realität.

Südbaden, Mitte November, CDU-Bezirksparteitag in der Stadthalle von Blumberg. Hier ist alles noch wie früher: rustikale Holzvertäfelung, dralle Bedienungen in Tracht. Am Eingang verschenkt die Lutz-Fleischwaren AG Schwarzwälder Schinken und Wurst. Der Bürgermeister verkündet stolz: „Wir haben mit der Sauschwänzlebahn einen Magneten, der jährlich über 100.000 Menschen anzieht.“

Auch für Willi Stächele, Bezirksparteichef und Europaminister in Stuttgart, ist die Welt in Ordnung. Mit „Freude, Stolz und Dankbarkeit“ blickt er zurück auf die Landtagswahl im März, die wie immer die CDU gewonnen hat. Lobende Worte findet er auch für Angela Merkel. Bei ihr sei „unser Vaterland in guten Händen“, stellt er fest. Alle klatschen. Anziehende Konjunktur, weniger Arbeitslose – „ganz so schlecht kann es ja nicht sein, was da aus Berlin kommt“. Ein Grund für die schwachen Umfragewerte der Union sind Stächele zufolge „Wortmeldungen“ aus den eigenen Reihen, die „besser unterbleiben“ sollten. Er meint Rüttgers. „Lebenslügen? Wir sind weit davon entfernt, die Leipziger Beschlüsse in diesem Lichte zu betrachten.“

Die Südbadener scheinen nur wenig befürchten zu müssen. Dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt vielleicht – oder dass man ihnen Geld wegnehmen könnte. Zum Beispiel Klaus Wowereit. „Der wollte erneut und zusätzlich in unsere Taschen greifen“, schimpft der Bezirksvorsitzende auf den Berliner Bürgermeister und dessen Wunsch nach mehr Geld. „Gott sei Dank hat ihm das Verfassungsgericht auf die Finger geklopft“, stichelt Stächele und empfiehlt der Hauptstadt als neues Motto: „Geiz ist geil!“

Gar nicht geil finden die Südbadener Christdemokraten, dass die Türkei in die EU aufgenommen werden soll. Die Junge Union verlangt, die Beitrittsverhandlungen sofort abzubrechen. Der Antrag scheitert sehr knapp. Arbeitsmarktpolitik ist kein Thema. Bei Lutz-Fleischwaren sind gerade tausend Arbeitsplätze bedroht, die Delegierten konnten es am selben Tag in der Zeitung lesen. Gesprochen wird darüber nicht.

Ehrengast Wolfgang Schäuble, der selbst in Baden wohnt, verfolgt die Diskussion mit Wohlwollen. „Die südbadische Union ist halt immer noch was Besonderes“, schmeichelt der Bundesminister des Innern den Delegierten und verteidigt ebenfalls die Reformkonzepte der Union. Der CDU-Politiker sagt auch: „Demokratie braucht Führung.“ Wer will, mag das als kleine Spitze gegen Merkel verstehen. Aber ein Putsch? Danach sieht es nicht aus.

Die baden-württembergische CDU wird auf dem Parteitag in Dresden einen Antrag stellen: für eine Lockerung des Kündigungsschutzes und betriebliche Bündnisse. Der Antrag wurde als Zeichen gegen eine „Linksverschiebung“ à la Rüttgers angekündigt. Einige Landesverbände haben sofort ihre Unterstützung zugesagt. Rüttgers wird bei seinem Antrag bleiben, das Arbeitslosengeld für Ältere aufzustocken. Merkel und Pofalla unterstützen beide. Und beide dürften eine Mehrheit finden. Ein Widerspruch? Es wäre nur einer von vielen in der CDU.