„Radikal ist: Das Richtige tun“

INTERVIEW JENS KÖNIG
UND KATHARINA KOUFEN

taz: Herr Bütikofer, lassen Sie uns zunächst die Geschäftsgrundlage des Interviews klären: Wie lange hält die große Koalition? Und wann regieren die Grünen wieder mit?

Reinhard Bütikofer: Ich bin nicht im Propheten-Business tätig. Ich sehe nur, dass die große Koalition allein durch die Schwäche von Union und SPD zusammengeschweißt wird. Das Risiko, dieses Bündnis vorzeitig zu beenden, würde sich weder für Angela Merkel noch für Kurt Beck lohnen. Ich vermute, wir werden es noch eine Weile mit denen aushalten müssen.

Die Grünen sind also endlich in der Opposition angekommen?

Hatten Sie daran Zweifel?

Manchmal schon. Die Partei tut sich schwer mit ihrer neuen Rolle.

Ihr Eindruck ist falsch. Die Partei trägt nicht Trauer. Wir sind in einer Wachstumsphase – und sehr lebendig.

Vom Frust über die Regierung profitieren am meisten die Liberalen, am wenigsten die Grünen. Warum?

Ich finde, wir machen die beste Oppositionsarbeit.

Klar. Das behaupten Westerwelle und Lafontaine/Gysi auch.

FDP und Linkspartei haben sich auf einem Extrempol des Parteiensystems eingerichtet – die einen rufen bei jeder Frage nach dem Markt, die anderen nach dem Staat. Sie gehen zu allem in Opposition. Das peppen sie dann mit einer gehörigen Portion Populismus auf. Das hört sich manchmal gut an. Aber der politische Wert? Ist ziemlich gering.

Als Beobachter hat man den Eindruck, die Grünen wüssten selbst nicht so recht, wo sie hinwollen. Auf einem Zukunftskongress ruft die Partei ein „Theorie-Woodstock“ aus und erinnert an ihre radikalen Wurzeln. Ein paar Tage später wird wieder mal die Ökologie als neues Großthema ausgerufen. Dann heißt es, die wirkliche Partei der sozialen Gerechtigkeit, das sind wir, die Grünen. Was denn nun?

Gegenfrage: Was wäre das für eine komische Partei, die sich dadurch auszeichnete, dass sie sich um die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse wenig kümmert und nur auf einen Themenbereich beschränkt?

Aha, die Grünen sind also eine ökologische Wirtschaftspartei, die für soziale Gerechtigkeit kämpft.

Nennen Sie es, wie Sie wollen. Unser Markenkern ist unverändert. Die Grünen stehen für Ökologie, soziale Verantwortung und individuelle Emanzipation, ermöglicht durch Bürger- und Teilhaberechte.

In der Ökologie haben Sie die Meinungsführerschaft verloren.

Bitte?

Wenn über Klimawandel geredet wird, denken viele nicht mehr automatisch an die Grünen.

In Sachen ökologischer Kompetenz landen die Grünen in Umfragen stets mit großem Vorsprung auf Platz eins. Dass die Menschen dabei nicht mehr allein an uns denken, halte ich für einen Fortschritt. Wenn Westerwelle sich zum ersten Mal seit 16 Jahren mit den Natur- und Umweltschutzverbänden trifft, dann ist das einerseits lächerlich. Andererseits zeigt es, dass selbst die Liberalen um dieses Thema nicht mehr herumkommen. Umwelt- und Klimapolitik wird in den nächsten zehn Jahren eine größere Rolle spielen als in den letzten zehn. Sie wird hegemoniefähig.

Ihr Umweltexperte Reinhard Loske meint, die Grünen müssten in Fragen der Ökologie wieder radikalere, schmerzhafte Forderungen stellen.

Da sind wir einer Meinung. Wir brauchen eine neue Radikalität in der Umweltpolitik. Sie ist auch möglich. Weil sich unter unseren Füßen der Boden in Bewegung setzt. Weil die Leute wieder Bilder vor Augen haben, zum Beispiel durch den Al-Gore-Film, wo sie Gletscher sehen, die vor 30 Jahren noch ganz anders aussahen als heute.

Dann seien Sie doch mal radikal. Fordern Sie!

Sie verwechseln da was. Wir kriegen die Probleme nicht durch Verbalradikalismus in den Griff. Radikal ist: Das Richtige tun. Wir müssen Bündnisse schließen, um die grüne Kernagenda wirksamer in die Realität umsetzen zu können.

Sehen Sie, die Grünen haben doch ein Rollenproblem. Sie wissen nicht, ob Ihre Partei den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben oder sich doch lieber als Koalitionspartner im Wartestand präsentieren soll?

Wir wollen den radikalen Wandel. Und wir wissen: Eine Partei, die man nicht fürchtet, muss man nicht ernst nehmen.

Punk oder Panflöte – das sei die Alternative, vor der die Grünen stehen, meint Peter Siller, ein junger Grüner aus Ihrer Programmkommission.

Die Alternative zwischen Punk und Panflöte ist keine. Ich weiß ja nicht, was Peter Siller sich unter der Panflöte vorstellt. Das ist ein orgiastisches Instrument. Pan ist ein wilder Gott.

Wie lautet die Alternative dann? Punk oder konstruktive Opposition?

Wieso oder? Warum nicht Dialektik akzeptieren? Wir sind auch konstruktive Opposition. Das ist die notwendige zweite Seite unserer Radikalität.

Was heißt das konkret?

Ein Beispiel: Wir treiben eine Energiepolitik voran, die eine wirksame Minderung von Kohlendioxid zum verbindlichen Ziel erklärt. Umweltminister Sigmar Gabriel sprach schon mal davon, den CO2-Ausstoß in Deutschland bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Die Bundesregierung allerdings zögert noch. Wir wollen dieses Ziel durchsetzen. Jetzt sagen einige bei uns: Vergesst das Kiotoprotokoll, ab sofort unterstützen wir nur noch eine Politik, die auf Nullemission setzt. Diese Position geht genau den entscheidenden Schritt zu weit. Das ist nicht anschlussfähig für die, die ich brauche, um den Zug wirklich in Bewegung zu setzen. Das führt ins politische Ghetto.

Lassen Sie uns dieses Rollenproblem an einem Thema durchspielen, das auf dem Parteitag eine große Rolle spielen wird: die Zukunft der sozialen Sicherung. Können Sie der Grundidee von Jürgen Rüttgers etwas abgewinnen, älteren Menschen länger Arbeitslosengeld zu zahlen als Jüngeren?

Das ist nicht die Grundidee von Jürgen Rüttgers. Seine Grundidee ist ganz simpel und zynisch: Er will der SPD in Nordrhein-Westfalen die Facharbeiter wegnehmen. Er will Ministerpräsident bleiben. Ginge es ihm wirklich um die Älteren, würde er das ohnehin illusorische Versprechen nicht mit der Forderung verbinden, das Arbeitslosengeld I ausgerechnet für Jüngere, Frauen und Ostdeutsche zu kürzen – für alle jene, die nicht so lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Ich halte das für ein unanständiges Betrugsmanöver.

Wäre eine längere Zahlung des Arbeitslosengeldes für Ältere nicht eine Anerkennung ihrer Lebensleistung?

Was hat ein arbeitsloser 55-Jähriger davon, wenn ich ihm sage: Du hast keine Chance mehr, aber mein Respekt vor deiner Lebensleistung besteht darin, dass ich dir zwei Jahre lang Arbeitslosengeld I zahle? Wirklicher Respekt bestünde darin, ihm Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen.

Man kann beides tun.

Okay, dann sage ich, lasst uns streiten, wo die Prioritäten liegen. Die viel kritisierte Hartz-Reform war an diesem Punkt richtig. Diese Segmentierung des Arbeitsmarktes – die einen sind drinnen, die anderen draußen – können wir nicht hinnehmen. Die alte Blüm’sche Regel, wonach den vorrangig männlichen Langzeitarbeitnehmern eine bessere Absicherung gewährt wird und die anderen dafür auch noch zahlen sollen, hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun.

Hartz IV war kein Fehler?

Hartz IV war kein Fehler, aber von vornherein mit Fehlern behaftet.

Was ist das? Grüne Regierungsoppositionslogik?

Nein. Ich glaube, das kann jeder verstehen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war richtig. Aber es war beispielsweise ein Fehler, dass durch den Druck der Union im Bundesrat die Zumutbarkeitsregeln so verschärft wurden, dass ein Hartz-IV-Empfänger jede Arbeit annehmen muss, selbst die unterhalb des ortsüblichen Lohnniveaus. Es war ein Fehler, die privaten Vorsorgeleistungen fürs Alter nur in so geringem Umfang zu schützen.

Verschärft die Hartz-Logik nicht die sozialen Probleme, statt sie zu lösen?

Wenn die Regierung entscheidet, dass die jungen Leute unter 25 wieder zu Hause einziehen müssen, damit sie Arbeitslosengeld II erhalten, dann ist das nicht der Grundgedanke von Hartz, sondern dessen Pervertierung. Ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass der Gedanke von „fordern und fördern“ falsch sein soll, weil von der großen Koalition eine Politik gemacht wird, die auf denunzieren und ausgrenzen hinausläuft.

Wenn die Grünen so gut da stehen, wie Sie sagen – warum regieren sie dann in keinem einzigen Bundesland?

Weil wir dazu Partner brauchen. Wir hatten in diesem Jahr zwei aufschlussreiche Erfahrungen. In Baden-Württemberg und Berlin haben wir bei den Wahlen jeweils vier Prozent dazugewonnen. Aber Oettinger und Wowereit haben sich für das bequemere „Weiter so!“ entschieden. Lamentieren hilft jedoch nicht. Wir müssen eben noch stärker werden und mit einem klaren grünen Profil in unterschiedliche Milieus vordringen. Hätten wir in Berlin zwei Sitze mehr gewonnen, wäre Wowereit an uns nicht vorbeigekommen.

Und wo liegt die strategische Perspektive? In einer Ampelkoalition? Bei Schwarz-Grün? Rot-rot-Grün?

Wir wollen einer sozial und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft den Boden bereiten – egal, ob als Oppositions- oder Regierungspartei. Unsere strategische Aufgabe besteht nicht darin, darüber zu theoretisieren, mit wem man gegebenenfalls mathematisch Mehrheiten zustande brächte. Es muss ja in der Sache stimmen.

Das sagen Sie mal Ihren Fraktionschefs. Renate Künast und Fritz Kuhn fordern alle paar Tage, das Trennende zwischen den Grünen sowie der Union und der FDP wegzuhauen.

Das verkürzen Sie jetzt. Aber noch einmal: Wir sind viel weiter, als dass es nur darum gehen könnte, wie eine kleine Partei aus der Opposition in die Regierung zu führen ist. Wir wollen regieren. Aber vor allem wollen wir wachsen, wichtiger werden, durchschlagskräftiger, bündnisfähiger, Richtung weisen. Die Macht folgt dann den Inhalten.