„Ballerspiele sind höchstens Auslöser“

Amokläufer sind gestörte Persönlichkeiten, sagt der Düsseldorfer Autor und Kriminologe Stephan Harbort

taz: Herr Harbort, haben Sie in Ihrem Buch „Das Serienmörder-Prinzip“ den Code des Bösen entschlüsselt?

Stephan Harbort: In dem Buch wird zum ersten Mal eine Theorie vorgestellt, die empirisch belegt ist. Ich habe handfeste Beweise dafür, dass sich der Prozess des Hineingleitens in diese Gewaltform in vier Phasen vollzieht bis zur ersten Tat. Danach schließen sich noch drei Phasen an. Ich habe alle Serienmorde, die in der BRD und der DDR seit 1945 passiert sind, untersucht, und zwar an Hand der Gerichtsakten und von Interviews.

Sie befassen sich seit mehr als 15 Jahren mit Serienmördern. Gibt es Gemeinsamkeiten bei den Tätern?

Es gibt kein typisches Profil des Serienmörders. Es gibt aber zwei Merkmale, die alle Täter verbindet. Zum einen eine ungelöste Selbstwertproblematik. Zum anderen die krankhafte Suche nach einer neuen Identität. Diese Identität entsteht durch die erste Tat und kompensiert vorübergehend die ungelöste Selbstwertproblematik.

Worin unterscheiden sich Serienmörder von Amokläufern?

Die Amokläufer in Schulen versuchen, das Problem, das sie haben, durch eine Apokalypse zu lösen. Sie machen sich selbst zu deren Bestandteil. Viele dieser Jugendlichen haben die Aushöhlung ihrer Persönlichkeit, das Sich-Hinwenden zum Abnormen vorher gepflegt. Dahinter stehen andere Persönlichkeitsstrukturen als bei einem Serienmörder, der nach jeder begangenen Tat einen Kick verspürt.

Was sind die Ursachen für jugendliche Gewalt?

Jugendkriminalität hat episodenhaften Charakter. Nur fünf Prozent der Jugendlichen sind chronisch kriminell und diese fünf Prozent machen 40 Prozent der Straftaten aus. Bei ihnen gibt es drei Faktoren, die immer wieder auftauchen: innerfamiliäre Gewalterfahrung, soziales Außenseitertum auch in der Familie und Perspektivlosigkeit.

Können gewaltverherrlichende Computerspiele Verbrechen provozieren?

Das Argument wird immer wieder vorgeschoben, von Seiten der Politiker – purer Populismus. Ballerspiele sind höchstens die Auslöser, die Ursache liegt zeitlich viel früher und hat einen ganz anderen Rahmen. Im Einzelfall können solche Spiele dafür sorgen, dass eine Tat ein Gesicht bekommt, aber man kann den Computerspielen keine Schuld geben, das ist Nonsens.

Welche Rolle spielt die Gesellschaft in der Entwicklung von Amokläufern?

Bei diesen extremen Gewalttätern haben wir es mit hoch pathologischen Persönlichkeiten zu tun. Soziostrukturelle Entwicklungen oder etwa eine Verrohung in der Gesellschaft spielen da keine Rolle.

Wie könnte die Prävention aussehen?

Man müsste in eine Grundsatzdiskussion einsteigen, denn die Probleme entstehen in den Familien. In fast jedem Fall haben wir es auch mit erzieherischem Fehlverhalten zu tun. Der häufigste Satz, den ich von Tätern gehört habe, war: „Wenn mal jemand mit mir gesprochen hätte, wäre das nicht passiert.“

Hätte man den Amoklauf in Emsdetten verhindern können?

Man kann nur in begrenztem Maße Einfluss nehmen und in bestimmten Fällen überhaupt nicht. Wenn wir es mit einem Täter zu tun haben, der nach außen hin eine bestimmte Rolle einnimmt, die ihn normal erscheinen lässt, spielt er ein perfektes Spiel. Es ist unmöglich, dahinter zu kommen.

INTERVIEW: NICOLA ROEB