: Surfbretter, die über den Himmel gleiten
ARMES RAUBTIER Nach ihrer beinahe vollständigen Ausrottung sind Seeadler nun wieder in Norddeutschland heimisch. Von hier aus verbreiten sie sich sogar bis Frankreich und Dänemark
VON HENNING BLEYL
Neben einem toten Tier zu zelten, ist nicht unbedingt ein Vergnügen. Willi Rolfes aus Vechta tut es trotzdem gern. Denn so hat der Fotograf eine Chance, nach tagelangem Warten einen Seeadler zu fotografieren – beim Fressen. Die aus einem Tarnzelt heraus geglückten Aufnahmen sind nun in einem spektakulären Bildband zu bestaunen, der in der Bremer Edition Temmen erschienen ist.
Vor einigen Jahren noch hätte Rolfes, im Hauptberuf Direktor der Katholischen Akademie Stapelfeld in Cloppenburg, sehr viel länger sein Kadaver-Camping in Kauf nehmen müssen, um in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern Seeadler ablichten zu können. Ihre allmähliche Wiederausbreitung ist eine aktuelle Erfolgsgeschichte, made in Norddeutschland.
Hier hatten die allerletzten Brutpaare der gewaltigen Greifvögel überlebt, hier kämpfte die „Projektgruppe Seeadlerschutz“ mit enormem Engagement um jedes einzelne Ei. „Der ununterbrochene Schutz der Horste vor Störungen war für die Adler überlebenswichtig“, sagt Projektgruppen-Geschäftsführer Bernd Struwe-Juhl. Der Schwarzmarktwert eines Seeadler-Eis habe bei 10.000 Mark gelegen.
Jürgen Reich hat eine andere Methode als Rolfes, um Seeadlern nahe zu kommen. Der Mann aus Mecklenburg-Vorpommern hat sich selbst ein Nest gebaut, in 15 Metern Höhe, das er seit nunmehr zehn Jahren regelmäßig bewohnt. Von hier aus kann er seine geflügelten Nachbarn fotografieren – wenn sie sich denn sehen lassen. Da die Seeadler selbst Bewegungen in 2.000 Metern Entfernung noch genau fokussieren können, hat Reich keine Chance, selbst unentdeckt zu bleiben. Doch irgendwann akzeptierten ihn die Greifvögel offenbar und ließen ihn sogar beim Füttern ihres Jungvolks über den Nestrand linsen.
Neben den Intimitäten des Horst-Innenlebens sind die Aufnahmen der Flug-, Fang- und Wendemanöver am eindrucksvollsten, insbesondere eine so noch nie gesehene Achsdrehung eines Seeadlers zur Beuteantäuschung. Doch auch der Alltagsflug dieses größten europäischen Adlers, der schon per „Normalschlag“ eine Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern schafft, ist imposant. Der im Emsland lebende Journalist Tobias Böckermann, der Rolfes’ und Reichs Bilder mit kundigen Kommentaren und ergänzenden Texten versehen hat, vergleicht den Seeadler mit einem „fliegenden Surfbrett“. In der Tat wirken die starr ausgestreckten Schwingen mit ihrer Spannweite von rund zweieinhalb Metern wie ein Musterbeispiel für mühelose Mobilität. Seit wenigen Jahren kann man das mit Glück auch wieder selbst beobachten: aus großer Entfernung, dafür ohne Höhenangst und Kadavergerüche.
Die Rückkehr der Seeadler tut auch den Fischen gut – obwohl sie von ihnen gefressen werden. Dieser erstaunliche Wirkungszusammenhang hat mit dem Appetit der Adler auf Graugänse zutun, die sozusagen als Zwischenstation in der Nahrungskette dienen: Weniger Graugänse fressen weniger Wasserpflanzen in Flachgewässern, unter denen sich wiederum mehr Jungfische verstecken können. Das verschafft den Fischen einen größeren Vorsprung, als die Seeadler durch Verspeisen einholen können.
Wen diese Argumentation nicht überzeugt, der kann Josef Helmut Reichholf fragen. Der Münchener Zoologe hat gerade in der Science dokumentiert, dass großen Raubtieren prinzipiell ein erstaunlicher Nutzen für die Artenvielfalt in den von ihnen behausten Gebieten zukommt. Leoparden verhindern Pavian-Plagen, australische Dingos sorgen dafür, dass nicht zu viele Füchse zu viele kleine Beuteltiere fressen. Und Wölfe und Luchse würden die Rehe in Deutschland mit deren immensen Verbissschäden in Schach halten, wenn man sie denn ließe – und es so viele gäbe wie in Rumänien oder Italien. Die Seeadler lässt man wieder.
Das war sehr lange sehr anders. Ab Mitte des 17. Jahunderts, sagt Tobias Böckermann, habe die einfache Botschaft gegolten: „Vögel mit einem krummen Schnabel sind schädlich. Sie fressen das, was der Mensch für sich alleine will.“ Ihre Ausrottung sei bis Anfang des 20. Jahrhunderts daher gesellschaftlicher Konsens gewesen. Der Seeadler-Experte Peter Hauff aus Neu Wandrum in Mecklenburg-Vorpommern weist zudem auf eine gesellschaftspolitische Entwicklung hin, die sozial erfreulich, zoologisch jedoch fatal war: die 1848 durchgesetzte Abschaffung des Jagdprivilegs des Adels. Die bürgerlichen Büchsenhalter ballerten enthusiastisch drauflos, angefeuert von Autoritäten wie dem „Tiervater“ Alfred Edmund Brehm, heute noch bekannt wegen seines „Tierlebens“. Brehm rief dazu auf, „schädliche Vögel, vor allem die Adler“, zu vernichten.
Die Bilanz war verheerend: Um 1900, sagt Böckermann, lebten auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik keine 20 Seeadlerpaare mehr. Der schwedische Tierfotograf Bengt Berg veröffentlichte 1927 sein Aufsehen erregendes Buch „Die letzten Adler“, mit dem ein Umdenken begann. Berg mischte harte Fakten mit romantischer Natur-Heroik: „Für den Adler ist der Luftraum ein Meer ohne Grenzen auf seinen Segelfahrten.“ Doch als sich der Bestand gerade zu erholen begann, schlug DDT zu. Nach 1945 kam das Insektenvernichtungsmittel flächendeckend auf den Markt, erst in den 70ern wurde es endlich verboten. Bis dahin kontaminierte es die Beutetiere der Seeadler und ließ deren Eierschalen dünn und brüchig werden. 1950 lebten in Westdeutschland noch ganze vier Seeadlerpaare. Dieses letzte Kleinst-Refugium lag, streng geheim gehalten, in Schleswig-Holstein.
Die DDR, auch ohne Adler im Staatswappen, war dem Westen in Sachen Seeadler deutlich voraus: Hier lebten in den 50er-Jahren immerhin noch 115 Paare, deren Leben durch großräumige Schutzzonen um die Horstbäume erleichtert wurde. Im Osten machte man sich zudem, im Gegensatz zum Westen, die Mühe der Kükenberingung. Schleswig-Holstein und Brandenburg als Keimzellen der gegenwärtigen Seeadler-Population verzeichnen stetige Zuwächse. Aktuell gelten 730 Seeadler-Brutpaare in der BRD als heimisch, das ist über ein Drittel der gesamten Seeadler-Population Mitteleuropas. Allein in Schleswig-Holstein hat sich der Bestand in den vergangenen zehn Jahren nahezu verdoppelt, wie aus dem aktuellen Artenschutz-Bericht des Landes hervorgeht. Von hier aus haben sich die monogamen Adlerpaare nach Niedersachsen und Dänemark ausgebreitet. „Wir sind zu einem Seeadler-Exportland geworden“, sagt Robert Habeck, der grüne Umweltminister von Schleswig-Holstein, stolz. In der Tat stammen auch die seit 2006 in den Niederlanden und Frankreich zu beobachtenden Seeadler aus Norddeutschland.
Ähnlich gut gedeihen hier Kraniche und Schwarzstörche, die ebenfalls die Feuchtgebiete brauchen, während Rebhühner und Fasane verschwinden. An deren Dezimierung sind die Seeadler unschuldig: Sie fressen lieber Fisch, Gans, Ente und ab und an ein Blesshuhn. Doch da sie auch tote Tiere fressen, leiden sie unter der bleihaltigen Munition der Jäger, die in nicht aufgefundener oder nur angeschossener Jagdbeute steckt: Bleivergiftung ist die häufigste unnatürliche Todesursache bei Seeadlern. Seit einem Jahr sind Bleigeschosse in Schleswig-Holstein verboten, allerdings nur in den Staatsforsten.
Anfang April hat Niedersachsen nachgezogen, aber auch hier gilt das Bleiverbot lediglich im landeseigenen Wald. „Es ist nicht zu verstehen, dass bei der Jagd noch immer mit bleihaltiger Munition geschossen wird“, sagt der niedersächsische Nabu-Vorsitzende Holger Buschmann. Und das, obwohl die negativen Folgen längst bekannt seien – besonders bei den Greifvögeln. Buschmann betont: „Bilder von Seeadlern, die an einer Bleivergiftung jämmerlich verenden, provozieren bei uns jedes Jahr aufs Neue die Frage, warum Blei aus fast allen Lebensbereichen verbannt worden ist, nicht aber bei der Jagdausübung.“
Bleimunition zerbirst im Gewebe eines Tieres zu einer regelrechten Splitterwolke, die kleinste Partikel enthält. Selbst niedrige Dosierungen sind für Seeadler tödlich, da eine chronische Bleivergiftung zu Blindheit führt. Ohne Blei, sagt Oliver Krone vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung, könnte es in Deutschland bereits 1.200 Seeadler-Brutpaare geben. „Das“, sagt Krone, „wäre unser Potenzial.“
Wenn die Gans zu Besuch kommt, freut sich der Seeadler. Er mag sie. Außerdem stellt sie Saisonware dar, die durchaus nicht immer zu haben ist. Die Gänse kommen erst im Herbst, der Seeadler hingegen bleibt als „Standvogel“ stets zu Hause. Immerhin hat er wieder eins – trotz Blei, Stromtrassen, Windrädern und Bahngleisen, die ihm im Winter ein gefährliches Buffet bieten.
Tobias Böckermann, Jürgen Reich und Willi Rolfes: „Die Rückkehr der Seeadler“, Edition Temmen, Bremen, 128 S., 19,90 Euro
Live-Sichtungen sind unter anderem an den Beobachtungsstationen möglich, die die Projektgruppe Seeadlerschutz in Schleswig-Holstein betreibt (www.projektgruppeseeadlerschutz.de). Sie sind jedes Jahr von März bis Juli durchgehend geöffnet. Dort kann man sich auch wochenweise als Bewacher engagieren lassen