Der Witz raubt die Kraft

THEATER In Dimiter Gotscheffs „Der Mann ohne Vergangenheit“ nach Kaurismäki erzählen am Deutschen Theater nur die Plastiktaschen von der Verwandlungsfähigkeit der Menschen

VON SIMONE KAEMPF

Nicht mit einer Feder wird der Atem des vermeintlich Toten überprüft. Hier tut es eine Zigarette, die dem Verletzten zwischen die Lippen geklemmt wird. Leblos liegt er am Boden, aber dann steigt eine Rauchschwade auf, und Röcheln ist laut zu hören, mikrofonverstärkt wie vieles an diesem Abend.

Er lebt! Und hat doch sein Leben verloren. Nach dem Überfall ist seine bisherige Vergangenheit aus dem Gedächtnis gelöscht. Nicht einmal seinen Namen kennt er. Doch wenn er nun aufsteht, wie von den Toten erweckt, passt er von Anbeginn in diese kleine fiktive Containerstadt im Hafenviertel und zu ihren Bewohnern, die alle gleichsam Verlust erlitten haben: ihren Arbeitsplatz, ihre Wohnung, ihr Vertrauen in höhere Kräfte.

Dimiter Gotscheff schickt in seiner Inszenierung von „Der Mann ohne Vergangenheit“ frei nach Aki Kaurismäki nicht nur eine, sondern insgesamt sieben Figuren in eine Welt heiter-resignativer Absurdität. Sie erleben eine Reihung skurriler Ereignisse und Stationen, wie man sie auch aus dem Film kennt.

Der Namenlose verliebt sich in ein predigendes Heilsarmee-Mädchen, will auf der Suche nach Arbeit ein Konto eröffnen und gerät in einen Banküberfall, bei dem er zusammen mit der Kassiererin in den Safe eingeschlossen wird, die Sprinkleranlage auslöst und bei der Polizei landet. Das alles spielt in dem Bühnenbild von Katrin Brack, das weniger die Fantastik des Zufalls als Prekariatselend behauptet. Eine hohe Straßenlaterne ist von bunten Plastikreisetaschen umstellt. Bald schon werden sie umfunktioniert, man quetscht sich zum Musikhören zu viert in eine Tasche. Oder es hocken Arbeitsvermittler darin wie in Minisaunas mit Handtuch und Aufgussbühnennebel.

Der Mentalitätsraum

Die komische Finnland-Variante lassen sich die Schauspieler nicht entgehen, unter denen Gotscheffs Stammschauspieler sind. Almut Zilcher fast adrett als Heilsarmeemädchen, Samuel Finzi streckenweise auf High Heels als Transvestit, Wolfram Koch mit einem Smalltown-Schnauzer, schweigsam und in sich gekehrt, viel herumstehend, meistens düster schauend.

In Kaurismäkis Film reichen solche Blicke, um ohne Dialog alles zu sagen. Bei Gotscheff überrascht es und wirkt fast fehl am Platz. Seine Stärke liegt auch dieses Mal wieder in der Schaffung eines Mentalitätsraums: eine Zwangsgemeinschaft, aufeinander angewiesen und gleichzeitig entsolidarisiert. Mit einem Typenarsenal wie dem feilschenden Vermieter Attila (Michael Schweighöfer), der sein Auto nur gegen Gebühr verleihen will. Seinem Hund, gespielt von Andreas Döhler, der ihm Geld wie Stöckchen apportiert, am Ende den Spieß umdreht und sich Herrchen gefügig macht. Und Almut Zilcher als mahnendes gutes Gewissen gegen Habgier und andere Todsünden. Mal lässt sie Bibelsprüche chorisch von allen singen. Mal gibt man auf der Bühne eine kleine Rock-’n’-Roll-Einlage – als sei es noch nicht genug, dass eine mehrköpfige Combo mit viel Akkordeoneinsatz und Tangorhythmen die Inszenierung beschallt.

Die Musiker mischen sich auch mal unter die Schauspieler. Wolfram Koch wagt mit Zilcher ein Tänzchen, was die Tangoleidenschaft der Finnen wohl auch ein wenig karikieren soll, den Abend allerdings von seiner Ausgangsidee wegführt, und das nicht zu knapp. Alles ist am Ende dick aufgetragen: die Musik, das sich in die Länge ziehende Happy End, das Spiel mit der Verkleidung. Wenn Samuel Finzi sich mit Perücke und Paillettenmini an der Straßenlaterne reibt, gibt das so rein gar nichts über Identitäts- oder Geschlechtszuordnungen preis.

Es sind am ehesten die Plastiktaschen, die von Verwandlungsfähigkeit erzählen. Sie dienen als Schwitzstube, Umkleidekabine, Koch sitzt einmal darin, als sei es ein Rettungsboot. Wie sich die Natur des bunten Plastiks suggestiv verändert, das sind kleine Kunststückchen, die den Abend insgesamt aber nicht verzaubern. Dazu artet die Spiellaune immer wieder allzu nervig aus. Der Witz, der hier als Prinzip des Widerstands gegen die Verwirrungen des Lebens benutzt wird, drängt sich immer mehr in den Vordergrund, raubt der Inszenierung schließlich mehr Kraft, als er Bedeutung zurückgeben kann.

■ Nächste Termine 9., 15., 16. Januar, Deutsches Theater