Ohrenschmerz im Pumpenhaus

Ein Wimmern, ein Schreien: Andreas Tiedemanns laute Uraufführung von „Orpheus Audio Splatter“ in Münster

Ohren zu und durch, haben sich am Sonntag wohl einige der Zuschauer in Münsters Theater im Pumpenhaus gedacht. Immerzu steckten sie sich die Finger in ihre Lauschorgane, denn was da aus den Lautsprechern drang, erreichte mitunter die akustische Schmerzgrenze. Und dann, nach der Uraufführung von „Orpheus Audio Splatter“: War das Selbstironie? Vielleicht. Zumindest gab es Einladungen – zum kostenlosen Test in einem Fachhandel für Hörgeräte.

Dabei war die Lärmquelle eine einzige Stimme: die von David Moss, einem aus New York stammenden Vokalkünstler, den Sänger zu nennen nicht ausreichen würde. Moss ist quasi die Verkörperung des musikalischen Crossover. Im klassischen Fach hat er mit Simon Rattle und Hans Neuenfels zusammengearbeitet und ist zugleich ein gefragter Klangkünstler. Der junge Berliner Theaterregisseur Andreas Tiedemann konnte Moss zu einer Zusammenarbeit mit seinem Label „Ohrpilot“ überreden, das sich dem akustischen Theater verschrieben hat. Seit sechs Jahren produziert es Theaterereignisse jenseits von Konsumierfreudigkeit und Klischees.

Nun hat das Team um Tiedemann den Orpheus-Mythos zerfleddert, sich die Einzelteile genauer angeschaut und nur das wieder zusammengesetzt, was es für wichtig hielt. Der Beginn ist zäh: Geschlagene zehn Minuten hockt Moss im weißen Anzug auf einem dreieckigen Podest mit dem Rücken zum Publikum und fasst in gebrochenem Deutsch die Geschichte des griechischen Helden und seiner Gattin Eurydike zusammen. Wie Eurydike an einem Schlangenbiss stirbt, Orpheus sie aus der Unterwelt wiederholen will, sich auf dem Rückweg nicht umdrehen darf, es aber dennoch tut, und Eurydike somit endgültig verloren ist.

In Film, Oper, Theater und sogar Tanztheater ist dieser Stoff hinreichend ausgeschlachtet worden. Im Mittelpunkt stehen dort zumeist die unsterbliche Liebe des Paares und die famosen Sangesleistungen Orpheus. Tiedemann aber hat den romantischen Teil abgetrennt. Er interessiert sich für die tragischen, psychologischen Elemente der Orpheusgestalt. Übrig bleibt ein gealterter Held, der auf sein trauriges Schicksal blickt.

Zwar tendiert Moss‘ schauspielerische Leistung gegen Null – doch die Töne, die der Vokalist erzeugt, gehen in Mark und Bein, rühren Herz und Seele an, erschrecken und bezaubern zugleich. Es ist die Faszination des Hässlichen, von der man sich nicht losreißen kann. Einmal stößt er mit Fistelstimme hoffnungsschwangere Spitzen raus, dann schon wummert sein Bass silbenbetonend „Eu-ry-di-ke“ durch den Raum.

Ovids Text, den Tiedemann als Grundlage gewählt hat, ist für den Amerikaner was die Akkordfolge für den Jazzsolisten ist: der Improvisationsrahmen. So sitzt Moss nicht nur wie ein kleines Kind trauernd am Boden, sein Gewimmer klingt auch wie das eines zahnenden Babys. Schrilligkeit und bel canto gehen ineinander über, werden zu einer fassungslosen Einheit. Tontechniker Kai Niggemann sampelt dazu live den Gesang, vervielfältigt ihn zu mehrstimmigen Tonschichtungen und verzerrt einzelne Passagen. So debattiert Moss mit sich selbst, ist Persephone, Königin der Unterwelt, die ihm immer wieder ein „Nein“ entgegenhaucht, und Orpheus in Personalunion.

Tiedemann hat für den richtigen Sänger den passenden Stoff gefunden und effektvoll nach der Anatomie der sagenhaften Stimme gefragt, die Steine erweichen und Götter betören soll. Es braucht dieses über-, vielleicht sogar unmenschliche Organ von Moss, um das Surreale der Geschichte umzusetzen. Das Ergebnis ist zwar eine Absage an die Schönheit, aber eine emotionale Abgründigkeit, die Ihresgleichen sucht. HEIKO OSTENDORF

Die nächsten Aufführungen: morgen bis So., 3. Dezember, jeweils 20 UhrKarten: 0251-5925252