WAS DER CAP-ANAMUR-PROZESS ÜBER EUROPAS FLÜCHTLINGSPOLITIK SAGT
: Wenn Retter zu Schleppern werden

Früher mal hätte es dafür Auszeichnungen gegeben: Da rettet die Besatzung eines deutschen Schiffes drei Dutzend Menschen aus dem Meer und bringt sie in einen sicheren Hafen. Heute dagegen gibt es für eine solche Tat eine ganz andere Quittung: einen Strafprozess. Als wären sie gewerbsmäßige Menschenhändler, muss sich Elias Bierdel, der frühere Chef der Hilfsorganisation Cap Anamur, zusammen mit dem Kapitän und dem Ersten Offizier des Schiffs jetzt in Italien wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung verantworten. Auskünfte über die kriminelle Energie der Angeklagten oder die moralische Verwerflichkeit ihres Tuns sind von der Verhandlung in Agrigent nicht zu erwarten. Wohl aber zeigt der Prozess selbst, wie weit es mit der italienischen und der europäischen Flüchtlingspolitik gekommen ist.

Die Staatsanwaltschaft von Agrigent setzt mit der Anklage fort, was die Berlusconi-Regierung im Sommer 2004 mit dem wochenlangen Tauziehen um die Flüchtlinge auf der Cap Anamur begonnen hatte. Damals sollte ein Exempel statuiert werden: das Exempel, dass Italiens Seegrenze wirklich dicht war, und undurchdringlich für die Elendsgestalten, die auf Schlauchbooten und Holznachen ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen. Nicht als Held wurde Elias Bierdel deshalb empfangen, sondern als Verbrecher – und mit ihm die 37 Afrikaner, die er an Bord hatte.

Mindestens genauso bitter war für Bierdel wohl, dass ihm damals gleich vorweg medial der Prozess gemacht wurde: Bloß „inszeniert“ habe er die ganze Geschichte, lautete der Hauptvorwurf, und – oh Gott! – er habe nach medialer Aufmerksamkeit für das tagtägliche Flüchtlingsdrama im Mittelmeer gegiert. Schon diese bizarre Debatte zeigte, wie sehr sich die moralischen Standards inzwischen verschoben haben. Nicht nur in Italien. Denn es war kein Zufall, dass Berlusconi sich rund um die Cap Anamur keine Vorwürfe aus Europa anhören musste; er tat ja nichts anderes, als unten in Sizilien die gemeinsame Flüchtlingspolitik der EU zu exekutieren – eine Flüchtlingspolitik, in der Retter schnell zu Schleppern werden. MICHAEL BRAUN