GROSSSTADT, DU VERDAMMTES BERUHIGUNGSPRÄPARAT!: Der Handtaschenklau
VON JOHANNES GERNERT
Ich sitze in der Hobrechtstraße in Neukölln und lese einen Text aus einem Magazin für junge Menschen. Der Text handelt von der U 8. Es ist dunkel. Die Leselaterne funzelt schwach. Ich warte.
Auf den Gleisen der U-Bahn-Linie 8, steht in dem Text, arbeiten viele junge Libanesen, die vielleicht gar nicht so jung sind, wie sie behaupten. Vielleicht sind sie auch gar keine Libanesen. Wenn die Polizei sie festnimmt, sagen sie, sie seien jünger als 14, damit sie wieder freikommen. Wer unter 14 ist, darf in Deutschland nicht bestraft werden.
Die vielleicht gar nicht so jungen Leute, die womöglich Libanesen sind, verkaufen Heroinkügelchen. Sie haben nicht viel, woran sie sich festhalten können. Nur diese Heroinkügelchen. Es ist nicht leicht, sich an Heroinkügelchen festzuhalten. Zumal, wenn man sie verkaufen soll. Sie sind außerdem so klein.
Man muss manchmal einfache, aber einprägsame Bilder wählen, wenn man von Dingen wie Heroin schreibt, das lehrt mich dieser Text in dem Jungemenschenmagazin. Vor allem aber merke ich, dass ich eindeutig zu viel lese. Ich fahre ständig mit der U 8, immer mit Buch oder Zeitung oder irgendeinem Magazin. Mir sind diese Heroinkügelchen noch gar nicht aufgefallen. Die jungen Dealer auch nicht.
Wie bescheuert ist das denn eigentlich, denke ich, als ich gerade an der Stelle mit Balu angekommen bin, der ein stolzer Mann ist, aber eine Droge nimmt, die ihm jede Würde raubt, unten in diesen Welten der U 8. Sitze ich hier und warte. Lese einen Text über Heroinkügelchen, an denen ich fast jeden zweiten Tag blindlesend vorbeifahre. Großstadtanonymität, du verdammtes Beruhigungspräparat. Nur ein paar Meter zur Schönleinstraße, U 8.
In diesem Moment geht die Tür auf, meine Freundin kommt heraus, und gleichzeitig fängt jemand an zu schreien. Es passiert durchaus häufiger mal, dass in Berlin jemand schreit, also sage ich erst einmal „Hallo“, aber das Schreien hört nicht auf. Ich drehe mich zur Seite. Da sind zwei Menschen. Sie scheinen miteinander zu ringen. Versucht da gerade jemand, seine Freundin zu verprügeln?
Das Schreien hört nicht auf. Ich schaue genauer hin, erkenne die Szene aber nur langsam. Da ist eine Frau. Und eine Gestalt, ein junger Mann. Der Mann reißt an der Frau, er reißt sie auf den Boden. Handtaschenraub, denke ich. Der junge Mann schaut mich an und sieht, wie ich ihn ansehe. Dann reißt er weiter.
Ich beginne darüber nachzudenken, ob ich da jetzt hinrennen sollte. Oder auch schreien? Aber die Frau schreit ja schon laut genug. Der junge Mann rennt weg.
Die Frau steht auf und ruft, dass ihre Handtasche weg ist. Dann verschwindet sie in einem Hauseingang.
Ich packe die Geschichte mit den Heroinkügelchen in meine Umhängetasche und sehe meine Freundin an, die die ganze Zeit direkt vor mir steht: „Da ist gerade eine Handtasche geklaut worden.“
„Was?!“
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