Kleiner Schnitt kommt in Mode

„Ab wann eine Vorhaut zu eng ist, darüber kann man sich streiten“, sagt der operierende Arzt

AUS RECKLINGHAUSENNATALIE WIESMANN

In das türkisfarbene Operationstuch haben die Krankenschwestern ein kleines Loch geschnitten. Nur so viel, um den kleinen Penis von Fadi freizulegen. 18 Monate ist Fadi alt. Er wird heute beschnitten. Die Entfernung seiner Vorhaut bekommt der Sohn libanesischer Eltern nicht mit. Denn im Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen stehen Kinder bei einer so genannten Zirkumzision immer unter Vollnarkose – Erwachsene werden dagegen nur örtlich betäubt.

Martin Büsing, der operierende Arzt, hält Fadis Penis hoch: Er ist leicht entzündet - Auslöser ist eine Vorhautverengung, auch Phimose genannt. „In diesem Fall handelt es sich um eine Mischung aus einer medizinischer Indikation und kultureller Tradition“, erklärt Büsing, während er mit einer spitzen Schere zum Schnitt ansetzt. Sein Assistent Erdal Öztürk spannt mit zwei zangenartigen Klemmen die Vorhaut. Dann schneidet der Arzt kreisrund die Hälfte der Vorhaut ab – das sind bei dem kleinen Jungen etwa zwei bis drei Zentimeter. „Ist das genug“, fragt der Arzt seinen türkischstämmigen Assistenten. Öztürk nickt. „Da krieg ich ganz schnell Ärger, wenn nicht genug weg ist“, sagt Büsing und lacht. Mit ein paar Stichen näht er die Wunde zu und legt einen Verband an. Etwa zehn Minuten sind vergangen. Büsing hält das dünne Häutchen demonstrativ in die Luft: „So mancher Erwachsener nimmt sie als Erinnerung mit nach Hause“, sagt er. Chirurg Büsing spricht aus langer Erfahrung: Seit 22 Jahren beschneidet er schon Jungen und Männer.

Die Eltern, die ihre Kinder bei Büsing unters Messer legen, kommen mit einer Überweisung vom Arzt – Vorhautverengung lautet die Standard-Diagnose. Denn die medizinische Indikation ist die einzige, die gesetzlich erlaubt ist. „Ab wann eine Vorhaut zu eng ist, darüber kann man sich streiten“, sagt Büsing. Die Phimose sei meist nur vorgeschoben. Die Mehrzahl seiner jungen Patienten würden aus traditionellen Gründen beschnitten. Auch wenn die Jungen in Deutschland geboren sind? „Ich kenne keine türkische Familie, die ihre Söhne nicht beschneiden lässt“, sagt Assistent Öztürk. Die besonders Gläubigen, erzählt er, würden schon bei den Babys einen Eingriff vornehmen lassen. Die weniger Religiösen warteten mindestens das Alter von fünf oder sechs Jahren ab.

Experten gehen davon aus, dass weltweit jeder vierte Mann beschnitten ist. Die Zirkumzision hat eine lange Tradition, sie wurde bereits im alten Ägypten praktiziert. Bei Juden und Muslimen gehört das Entfernen der Vorhaut zur religiösen Pflicht. Aus hygienischen Gründen wird sie aber auch in Ländern wie Australien und den USA routinemäßig durchgeführt. Seit den 70er Jahren ist in den USA jedoch ein rückläufiger Trend zu beobachten. In Westeuropa hingegen, vor allem in Großbritannien und Deutschland, entscheiden sich immer mehr erwachsene Männer für eine Beschneidung und gegen Ihre Vorhaut.

„Das kommt in Mode“, bestätigt Büsing. Eine zunehmende Zahl seiner Patienten sind deutsche Männer. Ein großer Teil von ihnen will sich aus ästhetischen oder sexuellen Gründen von seinem „Präputium“, der Vorhaut, trennen. Der Trend kommt Büsing nicht nur aus finanziellen Gründen entgegen, der Schönheitschirurg hat auch schwerwiegende medizinische Argumente für sein Tun: „Ein beschnittener Penis überträgt nicht so leicht Viren wie ein unbeschnittener“, sagt er.

Laut mehreren Studien haben beschnittene Männer ein geringeres Risiko, sich mit AIDS zu infizieren. Denn die Innenseite der Vorhaut fungiert als Eintrittspforte für HI-Viren. Auch HP-Viren, die bei der Übertragung auf Frauen zu Gebärmutterkrebs führen können, werden von Männern ohne Vorhaut nicht so leicht übertragen.

Gegner der Zirkumzision zweifeln die Studien an. Sie sprechen von Körperverletzung: „Eine Beschneidung ist ein völlig ungerechtfertigter Eingriff in die Intimsphäre des Jungen, den nur dieser selbst gestatten darf und niemand anders für ihn zu entscheiden hat“, heißt es auf der Internetseite der Initiative „Väteraufbruch für Kinder“. Es solle den Jungen selbst überlassen werden, wie sie ihr ,bestes Stück‘ gern hätten. In den USA gibt es mittlerweile eine große Bewegung gegen Beschneidungen. Und Schweden hat 2001 als einziges Land in Europa die rituelle Beschneidung gesetzlich verboten.

Fadi ist aufgewacht und weint. Sein Vater wiegt den männlichen Nachwuchs mit stolzem Gesichtsausdruck in seinem Arm hin und her. Mutter Aischa sitzt mit ihrem älteren Sohn daneben. Sie ist erleichtert, dass alles gut geklappt hat. Warum sie den Eingriff hier im Krankenhaus haben machen lassen? „Ich habe von vielen gehört, dass Herr Büsing ein Profi ist“, sagt sie. Tatsächlich zieht Büsings Serviceleistung nicht nur Patienten aus dem Ruhrgebiet an. Es sei auch schon vorgekommen, dass jemand aus Großbritannien einflog, um sich in Recklinghausen beschneiden zu lassen, erzählt der Arzt.

Denn auch auf diesem Gebiet wird gepfuscht. Anfang des Jahres musste ein türkischer Rentner in Düsseldorf vor Gericht, weil er als Nicht-Mediziner mehrere kleine Jungen beschnitten hatte. Bei einer Hausdurchsuchung fand die Polizei außerdem verdreckte Instrumente. Vor Gericht verteidigte sich der Mann damit, dass er in der Türkei als hoch angesehener Beschneider gelte und es dort nicht die Aufgabe von Ärzten sei, Zirkumzisionen durchzuführen. „Das ist Unsinn“, sagt Öztürk. Früher seien die Operationen zwar tatsächlich von einer Art Heilpraktikern durchgeführt worden. Inzwischen sei es aber auch in der Türkei verboten, ohne Medizinstudium Vorhäute zu entfernen.

Heute sind viele türkischstämmige Ärzte in Deutschland darauf spezialisiert. Denn der Trend geht dahin, dass auch türkische Eltern ihre Kinder hier beschneiden lassen. „Der Aufwand, in die Türkei zu fliegen, ist vielen inzwischen zu hoch“, sagt Öztürk. Dafür stecken die meisten Eltern Geld und Energie in die traditionelle Beschneidungsfeier für ihre Jungs: Dazu laden sie die gesamte Familie und Bekanntschaft ein. Die Stars des Abends werden in prächtige Gewänder gekleidet, sehen dann aus wie kleine Könige. Einen ganzen Abend lang wird gegessen und getanzt. „Das ist fast wie eine türkische Hochzeit“, sagt Öztürk. An diesem Abend im Mittelpunkt zu sein, helfe den Jungs auch ein wenig die Schmerzen zu vergessen.