Rangeln um die Spitze

GROSSE KOALITION Die Union bleibt stärkste Kraft, die SPD legt deutlich zu: Nun geht es darum, wer den Kommissionspräsidenten stellt. Sigmar Gabriel hat schon eine Idee

„Das Ergebnis in Deutschland ist Rückenwind“, meint SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz

AUS BERLIN ANJA MAIER
UND ULRICH SCHULTE

Angela Merkel könnte zufrieden sein. Am Sonntagabend lag ihre CDU – gemeinsam mit der CSU – bei der Wahl zum Europäischen Parlament bei etwa 35,5 Prozent. Das entspricht dem von Demoskopen erwarteten Wert und liegt nur wenig unter dem Ergebnis von 2009 von 37,9 Prozent.

Bedenklich an diesem Ergebnis jedoch ist das der Schwesterpartei CSU. Mit 5,1 Prozent lieferten die Bayern ein schlechtes Ergebnis ab. Parteichef Horst Seehofer sprach in München von einer „herben Enttäuschung“ für seine Partei. Generalsekretär Andreas Scheuer suchte vergeblich einer Erklärung. „Wir haben es nicht geschafft, unsere Anhänger zu mobilisieren“, sagte er.

Gleichwohl bleibt die Fraktion der Europäischen Volkspartei, der CDU und CSU im EU-Parlament angehören, voraussichtlich stärkste Kraft. Ein zentrales Ergebnis, geht es doch letztlich auch um die Neubesetzung des wichtigsten Postens, dem des Präsidenten der Europäischen Kommission. Geht es nach CDU und CSU, soll der Jean-Claude Juncker heißen.

Auch die Sozialdemokraten haben einen Spitzenkandidaten. Und der, Martin Schulz, kann sich ebenfalls als Gewinner fühlen: Mit gut 27 Prozent konnte die SPD ihre Europawahlergebnis von 2009 um sagenhafte mehr als 6 Prozentpunkte verbessern.

Im Willy-Brandt-Haus jubelten die Genossinnen und Genossen dem Mann aus Nordrhein-Westfalen minutenlang zu. Parteichef Sigmar Gabriel ergriff die Gelegenheit, sogleich für Schulz als nächsten Kommissionspräsidenten zu trommeln. „Das Wahlergebnis trägt einen Namen“, rief Gabriel, „und der lautet Martin Schulz.“ Nun müsse im Europaparlament „das Selbstverständlichste“ geschehen: „Die Mehrheit wird den nächsten europäischen Regierungschef wählen.“ Eine kaum kaschierte Einladung an Grüne, Liberale und Europäische Linke im EU-Parlament, gemeinsam mit den Sozialisten Martin Schulz ins Amt zu helfen.

Auch Schulz redete Klartext: „Wir haben gute Chancen, stärkste Kraft im Europäischen Parlament zu werden. Daraus leite ich natürlich den Anspruch ab, Kommissionspräsident zu werden. Das Ergebnis in Deutschland ist Rückenwind.“

Ebendieses Ergebnis dürfte sich auch auf die Stimmung in der Großen Koalition in Deutschland auswirken. Falls es, wie anzunehmen, in der Führungsfrage zu einer Machtprobe zwischen Sozialdemokraten und Konservativen kommt, hat diese das Potenzial für eine echte Konflikteskalation in Berlin. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte noch vor dem Wahltag lautstark vor „Volksverdummung“ gewarnt, falls keiner der Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten gemacht werde.

Was als Rückendeckung für Schulz’ Ambitionen gedacht war, könnte aber auch Juncker in die Hände spielen. David McAllister betonte denn auch gleich nach Schließung der Wahllokale Junckers Führungsanspruch: „Wir haben die Wahl in Deutschland gewonnen. Und wir haben den Grundstein dafür gelegt, dass Jean-Claude Juncker Präsident der EU-Kommission werden kann.“ Und CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagte: „Das deutsche Ergebnis ist ein 1:0 für Jean-Claude Juncker.“

Innenpolitisch dürfte das Ergebnis Gabriels SPD Auftrieb verschaffen. Die Genossen wundern sich seit Langem, warum ihre Erfolge in der Regierung – etwa der Mindestlohn oder die Rente mit 63 – in den Umfragen kaum zu Buche schlagen. Das aktuelle Ergebnis zeigt nun, dass eine Konsolidierung machbar ist.

„Das deutsche Ergebnis ist ein 1:0 für Jean-Claude Juncker“, freut sich CDU-Generalsekretär Peter Tauber

Die CDU hat bei dieser Europawahl wieder einmal bescheinigt bekommen, dass ihr Erfolg im Moment an einer einzigen Person hängt. Sinkt jedoch Angela Merkels Stern – warum auch immer –, ist wenig übrig von ihrer Partei. Eine strategische Unschärfe stellt für CDU und CSU zudem der Wahlerfolg der eurokritischen AfD dar. Die erreichte gleich im ersten Anlauf 7 Prozent. Gerade in der von 7,5 auf 5,1 Prozent geschrumpften CSU könnte es in den nächsten Wochen deshalb zu heftigen Kursdebatten kommen. Womöglich ein Grund mehr für die Kanzlerin, gerade in der Frage des Kommissionspräsidenten hart aufzutreten.

Union wie SPD hatten der Versuchung nicht widerstanden, vor der Wahl die nationale Karte zu ziehen. Gabriel hatte Schulz’ Kandidatur mit dem Argument beworben, nur mit ihm könne ein Deutscher an die Spitze der Kommission rücken. Am Wahlwochenende wiederholte die SPD diese Botschaft in großen Anzeigen.

Die CDU-Zentrale agierte noch unverfrorener. Sie versuchte, kurz vor dem Wahltag AfD-affine Wählerinnen und Wähler bei ihren Vorurteilen gegen Zuwanderer zu packen. Die Frage ist nun, welche Schlüsse daraus für die Zukunft gezogen werden.

Merkel selbst hatte in einem Ende vergangener Woche veröffentlichten Interview mit der Passauer Neuen Presse betont, die Europäische Union sei „keine Sozialunion“. CDU und CSU arbeiteten daran, bei Sozialleistungen wie dem Kindergeld „bestmöglich Missbrauch ausschließen zu können“.