Experimentierfreudiger Jahresausklang

KLANGKUNST Reiz- und Anspruchsvolles abseits gewohnter Konzertkost: Die „Hörbar“ ist Hamburgs zentraler Treffpunkt der experimentellen Musikszene. Seit fünfzehn Jahren veranstaltet sie am Jahresende ihr zweitätiges „Ausklangfestival“

Statt Platten haben die Klangkünstler Papierschnipsel oder Müll auf den Plattentellern installiert

VON ROBERT MATTHIES

Langsam, ganz langsam hat Asmus Tietchens sein Instrument auseinandergenommen, Millimeter für Millimeter. Als Klangerzeuger für sein Werk „Trois Dryades“ diente dem Hamburger Komponisten und Klangkünstler ein Baumstamm – den er gespalten hat. Die dabei in dessen Inneren entstandenen, mit bloßem Ohr überhaupt nicht hörbaren Geräusche nahm der 63-Jährige mit empfindlichsten Kontaktmikrofonen auf, filterte sie extensiv, brachte eine ganze Reihe anderer exotischer technischer Maßnahmen in Anschlag und erwirtschaftete auf diese Weise schließlich eine Unmenge klanglicher Strukturen, die er wiederum zum Ausgangspunkt seiner kompositorischen Arbeit machte.

In den drei Teilen seines Werks bastelte Tietchens dann nach rein gestalterischen Gesichtspunkten ein Geräusch- und Klangkontinuum, dessen Verweise auf das gespaltene Ausgangsmaterial am Ende kaum noch wahrnehmbar waren. Zum zweiten Mal nach 2003 gewann er damit den vom Südwestrundfunk gestifteten Karl-Sczuka-Preis – mittlerweile die wichtigste Auszeichnung für avancierte Radiokunst in Deutschland. Denn das „Zusammenspiel von vibrierenden Klangflächen und scharfkantigen Klangimpulsen, das Changieren zwischen konkret und abstrakt, der Wechsel zwischen kontemplativer Weite und physischer Bedrängung“ biete ein „Hörerlebnis von besonderem Reiz und Anspruch“, befand die Jury.

Wer sich in Hamburg auf die Suche nach derart reiz- und zugleich anspruchsvollen Hörerlebnissen abseits gewohnter Konzertkost begeben will, findet jeden Mittwochabend in der Bar des B-Movie einen zumindest physisch allen offenen Einstiegspunkt. Denn das Foyer des Kinos verwandelt sich dann in die Hörbar, Hamburgs zentralen Treffpunkt von KonsumentInnen und ProduzentInnen experimenteller und elektro-akustischer Musik. Hier spielen sich die FreundInnen furchtloser Klangerkundungen gegenseitig die eigenen Werke vor, tauschen Informationen und planen gemeinsame Projekte. Oder lauschen einfach mal, welch interessanten Klänge ein Bier erzeugen kann.

Anfang der 90er von Wolfgang Neven alias „YTonG“, Thomas Beck alias „tbc“ und Malte Steiner – bekannt vor allem durch seine Projekte „Notstandskomitee“ und „Elektronenhirn“ – initiiert, konstituierte sich die stetig gewachsene Gruppe Anfang 1995 als gemeinnütziger Verein. Heute kümmern sich rund 30 Mitglieder darum, ProduzentInnen und KonsumentInnen regelmäßig miteinander ins Gespräch zu bringen, bisweilen sehr isolierte Aktivitäten untereinander und einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen und regionale wie internationale Netzwerke aufzubauen. Und ganz allgemein um die Verbreitung und Förderung experimenteller Kunst, insbesondere elektronischer, elektroakustischer und industrialer atonaler Geräuschmusik – wobei sich die Hörbar explizit auch für medienübergreifende Projekte wie Filme, Texte oder Performances interessiert. Regelmäßig finden im Kinosaal des B-Movie Konzerte, Lesungen, Tanzperformances und Filmvorführungen statt. Die Grenzen sind weit gesteckt, man ist offen für alle Künstler, die ihre Stücke vorstellen wollen.

Seit fünfzehn Jahren veranstaltet die Hörbar außerdem am Ende jedes Jahres ein „Jahresausklangfestival“. An zwei Abenden treten Künstler oder Gruppen im Kinosaal auf, im Keller präsentieren sich derweil Labels, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb experimenteller Musik beschäftigen. Mitte der Woche ist es wieder so weit.

Sechs Projekte sind dieses Jahr zu hören. Wie vielfältig aktiv die Szene ist, macht dabei schon am Dienstagabend das vierköpfige Medienkunstkollektiv „Institut für Feinmotorik“ deutlich. Die deutsch-schweizerische Gruppe produziert nicht nur Musik und Klangkunst, sondern macht sich die ganze Palette der Medien zunutze: sie fotografiert, dreht Videos, installiert, zeichnet, programmiert Computer oder druckt; organisiert außerdem verschiedenste Veranstaltungen, publiziert Theorie, hält Vorträge, führt Seminare durch und produziert andere Künstler.

Am bekanntesten aber ist das Quartett für sein Album „Penetrans“ von 2002: das zwischen Minimal Techno und Clicks & Cuts angesiedelte Album wurde auf einem Set aus acht präparierten Plattenspielern und vier DJ-Mixern eingespielt – aber ohne Schallplatten zu benutzen. Stattdessen haben die Klangkünstler verschiedenste Haushaltsmaterialien von Papierschnipseln über Gummibänder bis zu Müll auf den Plattentellern installiert und deren Geräusche durch die Plattennadeln abgenommen.

Medienübergreifend arbeitet auch der Oldenburger Herr Penschuk: der verbindet seit zehn Jahren alltägliche grafische Techniken wie Behördenstempel und Kugelschreiber mit elektronischen Instrumenten und Spielzeug. Auf dem Ausgklangfestival führt er seine dieses Jahr zum ersten Mal aufgeführte Rekonstruktion des O-Tons von Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ weiter: Mit Hilfe aktueller Möglichkeiten der empirischen Gehirnstromforschung zeigt er, wie „der Schrei“ wirklich klang.

■ Di, 28. 12. und Mi, 29. 12., jeweils ab 20 Uhr, B-Movie, Brigittenstraße 5; www.hoerbar-ev.de