IM OBERDECK
: Die Langhaarigen

„Wart’s ab, jetzt kommen die Accessoires“, sagt der Typ im Kleid

Der Junge, der ins Oberdeck heraufsteigt, ist eigentlich ein junger Mann, aber das klingt so altbacken. Außerdem ist er als Frau gekleidet. Unter der offenen Jacke trägt er engen lila Strick bis Mitte Oberschenkel, darunter schwarze Strumpfhosen. Seine Freunde beiderlei Geschlechts begrüßen ihn mit Küsschen.

Themenparty in der ersten Stunde? Irgend so was. Jedenfalls handelt es sich nur um eine Verkleidung, die aufgeregt von den anderen kommentiert wird. „Steht dir eigentlich voll gut“, sagt eine der dunkelblonden Langhaarigen links vom Gang. „Wart’s ab“, sagt der Typ im Kleid, der wirklich nicht so übel darin aussieht, „jetzt kommen noch die Accessoires.“ Der Bus hält vor der Schranke an der S-Bahn, der Fahrer schaltet den Motor aus.

Die Langhaarigen sitzen eigentlich jeden Morgen links vom Gang. Ihre Zahl variiert, aber von hinten betrachtet haben sie alle dieselbe Frisur, glattes, glänzendes Haar, wahrscheinlich bürsten sie es viel. Sie reden über Physikaufgaben oder abwesende Freundinnen: „Ey, die ist echt mal so auf so ’nem Kreuzfahrtschiff, 30 Grad, ich kotze.“ Die Jungs haben kurze Haare, reden über Physikaufgaben und Laser-Tag: „Ich hinter diesem Container, und ich sehe ihn, ich sehe nur so seine Füße und komme rum und ziehe ab, so geil, Alter.“

Jetzt aber nehmen alle Anteil an der Frauwerdung ihres Mitschülers. Er hat sich silberne Creolen in die Ohren gehängt und versucht mit Hilfe eines Taschenspiegels, sich die Lippen anzumalen. „Oah, kann mir wer helfen?“, fragt er. Die Langhaarige hinter ihm übernimmt.

Der Bus wartet immer noch. Es ist jetzt ganz leise geworden. Morgensonne fällt ins Oberdeck. Der Junge hat die Augen geschlossen, während seine Klassenkameradin ihn vorsichtig schminkt. So nah waren sich die beiden vielleicht noch nie und werden es vielleicht nie mehr sein. Der Motor springt wieder an. CLAUDIUS PRÖSSER