Dicke Luft in der Pflanzenfamilie

VERWANDTE Bäume und Blumen können feinste Veränderungen spüren – und miteinander kommunizieren

Sind sich die Pflanzen in einer Familie zu ähnlich, sorgt das für zusätzlichen Stress

VON CORD RIECHELMANN

Zwei Samen fallen vom selben Baum auf die gleiche Stelle auf dem Boden. Der eine wächst sich zum Baum aus, der andere nicht. Na, fragt der Professor, was ist das? Das ist Konkurrenz!

Eine Konkurrenz unter Brüdern sozusagen. Mit einem Ergebnis, das unter Pflanzen die Regel ist. Wenn zwei Sämlinge mit den gleichen Ansprüchen am gleichen Ort wachsen wollen und nur für einen Platz da ist, wird einer den anderen im Schatten halten und am Weg zum Licht hindern. Das führt nur in den ersten Wachstumsmomenten zum Stress in der Familie, danach hat der ausgewachsene Baum andere Sorgen.

Die Erkenntnis, dass Pflanzen Stress empfinden können, ist noch gar nicht so alt. Wie es auch noch nicht so alt ist, dass sie auf verschiedenste Weisen auf Stress reagieren können und ihre Reaktionen auch kommunizieren. Mittlerweile gilt es aber wissenschaftlich als gesichert, dass auch Pflanzen Gefühle haben. Vor allem in Stressmomenten kommunizieren sie.

Pflanzen sind schon deshalb, weil sie nicht weglaufen können, den widrigsten Bedingungen ausgesetzt. Kälte oder Hitze setzen ihnen zu. Die Böden, in die sie ihre Wurzeln getrieben haben, können ihren Salzgehalt verändern oder von anderen Schadstoffen kontaminiert werden. Dazu kommen Fressfeinde wie Käfer, Schmetterlingslarven oder pflanzenfressende Säugetiere. Gegen diese Feinde entwickeln sie teilweise sehr wirksame Abwehrmechanismen. Gegen Fressfeinde zum Beispiel können Pflanzen Alkaloide oder Senfölglucoside ausscheiden, die den Tieren nicht gut bekommen.

Eine Pflanze wird von den Blättern bis zu den Wurzeln ständig von Salz und Nährstoffströmen durchflossen. Wobei die Zellen der Pflanze bereits kleinste Abweichungen wahrnehmen können und die Abweichungen auch nach außen geben und darüber anderen Pflanzen mitteilen. Wichtig für die Kommunikation unter den Pflanzen ist dabei vor allem eine der Pflanzenzelle eigentümliche Struktur, die sogenannte Vakuole. Die Vakuole ist der von einer Membran umschlossene Zellsaftraum, in dem Zucker, Aminosäuren, die Fressfeindgifte und bestimmte Ionen gespeichert werden. Ihre Konzentrationen sind dann nicht nur Zustandsmesser der Pflanze selbst, sondern auch Mittel der Kommunikation über die Abgabe von Stoffen an die Außenwelt. Dabei ist die molekulare Aufschlüsselung der verschiedenen Transport- und Speicherkanäle innerhalb der Pflanze mittlerweile so weit fortgeschritten, das man vom Bild der Pflanze als bewegungsunfähiges, passives und statisches Lebewesen Abschied nehmen muss.

Die Sinnesleistungen der Pflanzen sind in manchen Bereichen sogar Tieren und Menschen eindeutig überlegen. Das betrifft zum Beispiel ihren Tastsinn. Pflanzen können kleinste molekulare Veränderungen der Luft bemerken – und das lässt die Vermutung zu, das sie auch spüren, wenn „dicke Luft“ in denen Räumen herrscht, in denen sie leben.

Warum sollten Pflanzen dann nicht auch spüren können, wie die soziale Lage unter den Menschen in dem Haus ist, in dem sie im Topf sitzen? Dies ist eine Stressvariante genau wie die bereits erwähnte Konkurrenz um einen Platz zum Wachsen und damit zum Leben.

Eine Zunahme von Konkurrenz unter den Samen der gleichen Art bei Platzmangel ist damit natürlich auch ein Stressfaktor. Ausweichen kann man ihm allerdings über ein von der Regel abweichendes Verhalten. Ein Same, der im Unterschied zu seinem Bruder mit weniger Licht auskommt, kann potenziell auch im Schatten des Verwandten wachsen. Um aber die Breite der Varietäten innerhalb einer Art zu erhöhen, ist es zweckmäßig, sich nicht – so wie etwa Bohnen es machen – ständig selbst zu befruchten und nur Klone seiner selbst in die Welt zu setzen.

Aber wie macht man das als Blütenpflanze, die in der Regel ein Zwitter ist und mit Narbe und Pollensäcken gleichzeitig ausgestattet? Diese Frage trieb auch Charles Darwin um. Obwohl man bereits zu seinen Zeiten durch das bereits 1793 erschienene Buch „Das entdeckte Geheimnis der Natur“ von Christian Konrad Sprengel von der Fremdbestäubung vieler Pflanzen durch Insekten wusste, galten bis zu Darwin Pflanzen als Selbstbestäuber. Fremdbefruchtung galt den meisten Botanikern als überflüssige Ausnahme.

Darwin aber dachte anders. Er hielt die Fremdbestäubung für die einzige wirklich effektive Möglichkeit der Überkreuzbefruchtung verschiedener Pflanzenindividuen, die erst die Voraussetzung von Variabilitäten in derselben Sorte hervorbringen. Die Frage, die ihn umtrieb, lautete: Wie kommt die andere Pflanze, das andere Individuum in das zwitterige Leben? Die Frage ließ ihm keine Ruhe und so begann er 1840 in seinem großen Garten ums Down House in England und in den fünf Gewächshäusern mit intensiven und langwierigen Versuchen mit Pflanzen. Er arbeitete systematisch mit Azaleen, Rhododendren, Primeln, Weiderichen und Bohnen. Man muss sich Darwin dabei als Pollensammler, -verteiler, Umtopfer und Pflanzenvermesser vorstellen, der ständig den Nachwuchs und Ertrag von selbst und überkreuzbefruchteten Pflanzen verglich. Und dabei erkannte: Es waren stets die überkreuzbefruchteten Individuen, die die variableren, kräftigeren und oft auch schöneren Samen hervorbrachten.

Um das zu erreichen, sind Pflanzen in einen Entwicklungsprozess eingetreten, in denen ihnen keine List, keine farb- und förmliche Täuschung zu schwer war, um die Insekten in ihren Dienst zu stellen. So vermieden sie den Stress in der eigenen Familie, der dadurch gefördert wird, dass sich die Mitglieder einer Pflanzenfamilie immer ähnlicher werden.