Wo ein Herd, da auch Liebe

TAFELN Können Fremde einander Familie werden, wenn man sie stundenlang füttert, mit fünf Gängen? Und ob – wenn es derer sechs sind. Ein Versuch

VON MARTIN REICHERT

Wenn der Esstisch das Sinn- und Bedeutungszentrum der Familie ist, dann müsste man doch an einem solchen Tisch eine Familie gründen können. Man setzt einfach eine bestimmte Anzahl von Menschen um ihn und füttert sie ununterbrochen mit Leckereien – fertig ist die Familie. Ganz ohne künstliche Insemination, bürgerliches Gesetzbuch oder Auslandsadoption.  Mein Mann und ich haben das einfach mal ausprobiert. An einem Samstagabend schickte uns die sonntaz-Redaktion viereinhalb unbekannte Menschen in unser Häuschen in der kleinen brandenburgischen Ackerbürgerstadt: Helene (Mitte vierzig), Jana (Anfang dreißig), Theresa (Mitte zwanzig), Linda (Mitte dreißig) und Anton (elf).

Rillettes auf Röstbrot

Nach einer langen Zugfahrt durch dunkle Schneelandschaften braucht der Mensch erst mal Sekt und Brot, dachten wir uns. Der Sekt ist wichtig, damit nicht alle herumstehen wie in einem Fahrstuhl, der zwischen dem sechsten und dem siebten Stock stecken geblieben ist. Am Glas kann er sich festhalten. Und rauscht erst der Alkohol, befördert durch die kleinen, blubbernden Bläschen in das Blut des Fremden, dann braucht er bald keine Blutsverwandten mehr, um sich vertraut zu fühlen.

Denn noch sprechen alle durch- statt miteinander, knäulen sich in Zweiergruppen und veranstalten eine Kakofonie, die das Kind, Anton, unter den Tisch treibt. Ein Pfeifen im Walde ist’s. Nun rasch im Ofen geröstetes Weißbrot mit Rillettes von der Gans und belgischer Leberpastete bestreichen, auf eine Platte schichten und in die Mitte des Tischs stellen. Alle müssen von einem Teller essen.

Die Pastete schmeckt, wenn man die Augen schließt, wie eine Leberwurststulle aus der Kindheit – Linda, sie stammt aus dem Brandenburgischen, sagt: „Wunderbar, das macht man bei uns so zum Abendessen, es gibt belegte Brote.“ Am Bahnhof vorhin war sie noch sehr zögerlich. „Normalerweise steige ich nicht zu Fremden ins Auto“, hatte sie gesagt. Und Jana juchzt ob der Rillettes: „So feine Sachen!“ Nun sind alle auf das Zentrum fixiert, den Tisch. Nur der kleine Anton mag die Speise nicht.

Salat mit Sesam

Eineinhalb Brote bleiben übrig, ein schüchterner Anstandsrest. Das eben begründete Zentrum wirkt schon wieder verlassen, weil sich ein Teil der Gruppe woanders um ein gemeinsames Lagerfeuer schart: sie rauchen, aus Rücksichtnahme auf die anderen im Arbeitszimmer. Eine Spaltung droht, die zu kitten nur der nächste Gang imstande ist.

Eine Soße aus Senf, Honig, Walnussöl und Balsamico für den frischen Feldsalat, darüber geröstete, gesalzene Sesamkörner und ein wenig knusprig gebratener Speck. Hübsch angerichtet auf Porzellan, verleiht dieser Gang dem Tisch wieder mehr Verbindlichkeit. „Ist das Sesam?“, fragt Teresa erstaunt und erfreut zugleich.

Der Sesam, das Korn, lenkt das Gespräch auf Biolebensmittel. Bloß Lifestyle? Oder doch moralische Pflicht? Linda sagt, dass ihre Eltern – und mit ihnen viele andere Bürger auch – beim Einkauf vor allem auf den Preis achten, Bio sei auch zu teuer für Hartz-IV-Empfänger. Helene bringt das auf die Palme: „Das ist so extrem, immer gleich Hartz-IV-Empfänger ins Feld zu führen. Und wenn ich Bio sage, dann meine ich eigentlich regionalen Anbau und vor allem eine bewusste Einstellung zur Ernährung.“ Linda steht weiter dazu, dass sie auch gern mal Fertignudeln aus der Packung ist. Mein Mann springt ihr zu Seite: „Im Osten war aus Gründen des Mangels sowieso alles Bio, nach der Wende haben dann alle Fertigprodukte gegessen – und reihenweise Allergien bekommen.“

Führt man solche Gespräche bei einem Familienessen? Die streitbare Helene, sie stammt aus dem Fränkischen, sagt mit rollendem R: „Ja und ob, über genau solche Sachen sprechen wir bei Familientreffen.“ Ihre Eltern leben noch, Weihnachten fährt sie immer hin, jedes Jahr.

Suppe aus Maronen

Der nächste Gang ist als vorläufiger Höhepunkt angelegt und zielt voll auf die Körpermitte: Suppe, von jeher ein Menschenfängergericht. Jetzt heißt es aufdrehen: Provencalische Maronensuppe, ein Sud aus Gemüse, Rinderfond, Rotwein, Kräutern der Provence und etwas Crème fraîche. Darauf selbst gemachte Croutons gestreut, die eine kleine Scheibe geräucherte Entenbrust tragen.

Es scheint zu funktionieren – im Sinne meiner harmonieversessenen Mutter, die zu kopieren ich nicht umhinzukommen scheine bei dem Versuch, eine Familie zu gründen. Verwöhne sie, alles soll schön sein. Das Dissonante der Welt soll einem Glanz weichen. Und ja, die Debatten über Lebensmittel verstummen, und alle lassen sich auf das nussige, schwere, leicht süßliche Aroma der heißen Suppe ein, lassen die Croutons im Munde zerkrachen und freuen sich an der sättigenden Wärme.

„Nachhaltigkeit wird sowieso überbewertet“ sagt Helene und meint es trotzdem nicht als Friedensangebot. „Es reicht doch, wenn es in Brandenburg bloß zehn Fachwerkhäuser gibt, die uns an die Kultur der Vorfahren erinnern.“ Mein Mann, der Restaurator, zuckt zusammen, und ich hole schnell eine weitere Flasche badischen Rotweins – sollte man nicht besser einen schwereren Wein wählen? Etwas Sedierendes?

Stattdessen dreht sich das Gespräch nun um den Niedergang der Kultur(-Industrie) im Internetzeitalter. Jana sagt, dass es ihr am Arsch vorbeigeht, dass nun jeder im Netz veröffentlichen kann: „Bloß weil jemand was einfach so veröffentlichen kann, heißt das noch lange nicht, dass es sich dabei um etwas Gutes handelt.“ Teresa ist an Janas Seite, Linda auch. Helene sagt, dass es in den Achtzigern furchtbar deprimierend war: „Du hast was Künstlerisches auf die Beine gestellt, und am Ende kamen bloß zehn Leute.“ Mein Mann befühlt unsicher den mit eigener Hand behauenen Stützbalken hinter sich. Anton hat die Suppe verschmäht. Ach Anton!

Frischkäse und Frucht

Wenn du sie nicht überzeugen kannst, verwirre sie. Verzaubere sie. Ein Talerchen Ziegenfrischkäse, dazu je einen Klecks Feigen-Senf-Sößchen und einen roten mit Cranberryjus. Die ganze schöne Familie ist schon wieder zerrissen, die einen rauchen, die anderen warten. Die Kleckse sehen auch ganz schön verkleckert aus, der Rotwein schwirrt ein bisschen im Kopf. „Kinder, Essen!!!“

Anton mag den Käse nicht, doch die rettende Idee blitzt auf: Er bekommt einen Extragang, ein Tellerchen mit Kartoffelchips. Volltreffer, er strahlt! Und sagt dann doch „Bäh.“ Es sind Vinegar-Chips aus England, und die mögen anscheinend nur Erwachsene. Wie soll das eigentlich klappen mit der Familie, wenn man es nicht mal schafft, das einzige wirkliche KIND einzubinden? Jana, Antons Mutter, ist die Rettung. Um der Medien-Internet-Diskussion mehr Nachhaltigkeit zu verleihen, rezitiert sie ein Gedicht von Ringelnatz. Herrlich. Schade, dass unser Klavier infolge eines Wasserschadens im Eimer ist und mein Mann sich seitdem weigert zu singen. Doch Linda kann auch ohne Begleitung. Und wie! Mit raumgreifender, wohltönender Stimme trägt sie einen Gospel vor. Gedichte, Hausmusik. Ich lese noch was Selbstgeschriebenes vor, jetzt ist es wie bei der „Familie Pfäffling“, einem vergessenen Gründerzeitroman. Die süßen, fruchtigen Soßen sind mit der herben Frische des Ziegenkäses eine Verbindung eingegangen, und plötzlich ist da so etwas wie Nähe. Eine Wärme, die nicht nur vom Rotwein stammt und auch nicht vom Ofen. Wer etwas vorträgt, riskiert etwas. Er tut es in dem Vertrauen, respektvoll behandelt zu werden. „Hat es euch geschmeckt?“, frage ich. Anton ist schon im Bett.

Nun wird es Zeit für das Hauptgericht – und welche Speise, wenn nicht ein Gulasch, würde sich am besten eignen, um in Deutschland eine Familie zu begründen? Zwei Kilo vom bis zur Ekstase glücklichen Biorind von nebenan in einem gusseisernen Topf stundenlang geschmort mit etwas Speck, Unmengen von Zwiebeln, fünf ganzen Knoblauchzehen und zwei Litern brandenburgischen Dunkelbiers Marke Märkischer Landmann. Dazu in Butter geschwenkte Kartöffelchen und Prinzessbohnen.

Gulasch in Biersoße

Schmausen, futtern, schaufeln – es gibt kein Halten mehr, die Dämme sind gebrochen. Zeit also für eine Familienaufstellung. Wer ist wer? Die Zeit reicht jedoch nur noch für die Rollen der Herkunftsfamilie. Es ist ganz schön spät geworden, bald fährt der letzte Zug nach Berlin. Helene bekennt zwischen zwei Happen Gulasch, sie sei in ihrer Familie „die Naive und die Glückliche“. Jana ist „die, die alles richtig gemacht hat und dann alles falsch gemacht hat“. Mein Mann murmelt, er sei „der Mann, der baut“, und Teresa sieht sich als einen „Paradiesvogel und bunten Hund“. Linda, die Zurückhaltende mit der starken Stimme, ist in ihrer Familie „die ruhige Weltenbummlerin“. Das tröstende Gulasch hat allen den Mut gegeben, sich zu bekennen. Und ich, ich bin das schwarze Schaf, das zugleich alle Träume der anderen in meiner Familie verwirklichen muss. Wie schade, dass nun alle gehen müssen. Es ist ein dann doch ein abrupter, hektischer Aufbruch, Anton sagt, im Halbschlaf: „Das Experiment ist gelungen.“ Ausgerechnet Anton, der noch immer hungrig ist. Zum Abschied umarmen wir einander herzlich. Es geht alles so schnell – schneller als das Kochen. Ich glaube, meine Mutter sagt das immer.

Jetzt ist die Familie schon wieder weg, und es war gar keine Zeit für den Nachtisch. Vanilleeis mit türkischen Weißkirschen. Und der Vater blickte stumm. Auf dem ganzen Tisch herum. Nichts als schmutziges Geschirr. Doch plötzlich klingelt das Telefon: „Der letzte Zug ist weg“, sagt Jana außer Atem.

Eis mit kalter Kirsche

„Dann kommt zurück, kommt doch einfach alle zurück!“, sage ich aufgeregt und renne zum Gefrierschrank. Sieben Schüsseln, sieben Portionen. Je ein großer Klecks köstliches, sahniges Vanilleeis, dazu ein kleiner Klecks höllisch süßer türkischer Kirschen. Es klopft, alle sind wieder da, ein großes Hallo ist das, ein Wiedersehen mit Freude.

Als das Eis im Munde geschmolzen ist, hole ich rasch Rotwein. Es wird noch dauern, bis das Taxi kommt, das alle nach Berlin fahren soll. Und der Aschenbecher kommt auf den Tisch. Nun haben wir doch noch Zeit, zu besprechen, welche Rollen wir in unserer neuen Familie haben wollen: Ich bin, klar, die Mutter, die alle bekocht. Mein Mann ist dann eben der Vater, weil er baut und Holz hackt, scheiß doch auf Gender. Jana und Teresa sind Schwestern, Anton bleibt einfach Janas Sohn und wäre dann mein Enkel. Helene ist die coole Tante, die Schwester meines Mannes. Und Linda? Linda ist der Bruder von Jana und Helene, weil sie anders ist als die beiden, und da ist es besser, man wechselt gleich das Geschlecht.

Als das Taxi kommt, nehmen wir, die neue Familie, uns alle fest in den Arm. Ich mache mir Sorgen wegen der Glätte und auch um Teresa, weil die noch auf eine Party will, bei der es Ecstasy-Bowle gibt. „Ihr dürft wiederkommen“, rufen wir, als das Taxi abfährt. Ihr dürft? Ihr müsst! Bald ist Weihnachten.