Rein in die Grundbedürfnisse

NESTBAU Wie wir leben, wo wir feiern. Ein Spaziergang mit der Architektin Julia Gill durch eine Fertighaussiedlung

Familie ist immer ein Fluch, gerade zu Weihnachten. Vielleicht hat das mit den Häusern zu tun

VON KIRSTEN KÜPPERS
(TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Als der Mann von der Fertighausfirma die Rollläden hochlässt, ist klar, dass sich einiges geändert hat in den Wohnzimmern dieses Landes. Das muss selbst Julia Gill zugeben. Die Architektin hat ein Buch geschrieben: „Das Unbehagen an der Fertighausarchitektur“. Gill ist eine zierliche Person, 42, sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in einer Altbauwohnung in Berlin.

An diesem Dezembertag hat Gill eine lila Strickmütze aufgesetzt, eine Daunenjacke und Bergstiefel angezogen gegen die Kälte hier in Königs Wusterhausen, Brandenburg. Als sie mit schnellen Schritten durch die Musterhaussiedlung stapft, vorbei an Säulenportalen, alpenländischen Balkonen und eingeschneiten Carports, muss man nicht lange warten, bis Julia Gill anfängt, über die Schwächen der Fertighäuser herzuziehen, sie hat ja ein ganzes Buch darüber geschrieben: „Furchtbar!“, ruft sie beim Laufen. „Die kleinen Grundstücke! Alle Stile aneinandergeklotzt! Nichts passt zusammen!“

Julia Gill weiß, dass es anmaßend ist, was sie sagt. „Es ist immer arrogant, darüber zu reden, wie Leute wohnen“, findet sie. „Aber machen kann man es trotzdem. Weil das Wohnen interessante Dinge aussagt über die Gesellschaft.“

Es ist still in der Siedlung. Viele der Musterhäuser sind verkauft, drin wohnen Familien. Vor den Türen stehen Kinderfahrräder und Spielzeug. Aber Familie ist immer auch ein Fluch, gerade an Weihnachten. Und vielleicht hat Julia Gill recht. Vielleicht hat das auch mit den Häusern zu tun, in denen die Menschen wohnen.

In der Siedlung kann man sich Prototypen anschauen. Die Hersteller bedienen die Wünsche der Mehrheit. Am Ortsrand von Königs Wusterhausen stehen sie dann: Villen, wie man sie aus Fernsehserien kennt. Holzhäuschen, die an den Ikea-Katalog erinnern. Irgendwo zwischen diesen beiden Möglichkeiten bewegt sich wohl, was die meisten Familien in Deutschland unter Zuhause verstehen. Dem Ort, an dem sie auch in diesem Jahr die Weihnachtstage verbringen.

Julia Gill stampft den Schnee von den Stiefeln und betritt das Modell „Stadtvilla 410.41“ der Firma Schwörer. Als drinnen der Schwörer-Mitarbeiter mit Fernbedienungen hantiert, Lichter einschaltet, Rollläden hochfahren lässt, es sehr nach neuem Plastik riecht, zeigt sich: Die Kunden wollen andere Wohnzimmer als früher. Zum Beispiel wollen sie Fenster, die bis zum Boden gehen. „Weil die Leute keine Angst mehr haben vor den Nachbarn“, erklärt Julia Gill. Sie wollen auch weite Wohnküchen haben. Sie wollen an einer Theke stehen und Kaffee aus großformatigen Espresso-Maschinen trinken.

Wahrscheinlich sind das gute Zeichen: Die Deutschen haben Vertrauen gefasst. Sie trinken besseren Kaffee und schicken ihre Frauen nicht mehr in dunkle Kochnischen.

Die Idee der schmalen Küchen habe einfach nicht funktioniert, sagt Julia Gill. In den sechziger und siebziger Jahren wurde sie zum Funktionsraum mit Durchreiche geschrumpft. Wohl in der Hoffnung, die Zeit möglichst anderswo im Haus zu verbringen. „Aber das Wegrationalisieren hat nicht geklappt.“ Der Mann von der Firma Schwörer hat sich einen Anzug angezogen, jetzt will er auch was sagen: „Das ist wegen den Fernsehkochshows. Kochen ist ja heute ein Event.“ Weil Julia Gill nur nickt und guckt, schiebt er hinterher: „Die Leute stören sich auch nicht mehr an den Gerüchen. Dafür gibt’s ja großartige Dunstabzugshauben“.

Es ist nicht einfach, ihn vom Thema Dunstabzugshauben abzubringen. Julia Gill steigt die Treppe hoch. Dort finden sich: Ein begehbarer Kleiderschrank. Eine Sauna und ein Fitness-Gerät in einem sehr großen Badezimmer. Ein Schminkzimmerchen, „der Platz fürs Finish“, sagt der Schwörer-Vertreter. Julia Gill lächelt. Sie meint, diese Räume seien die Antwort darauf, dass der Mensch immer am Computer sitzt. Das entfremde ihn von sich selbst. Die großen Badezimmer, die gewaltigen Kleiderschränke, die stattlichen Küchen zeigten die Sehnsucht, sich dem Körper wieder anzunähern.

Sie nestelt an ihrer Mütze, es wird deutlich, dass ihr Unbehagen wiederkommt. Es kriecht aus dem begehbaren Kleiderschrank, breitet sich im Schwörer-Haus aus, schwappt auf die ganze Neubausiedlung über. Gill redet von Energiekosten, Infrastruktur, Verkehr. Sie landet bei hässlichen Worten wie „Flächenfraß“ und „Landschaftsverschandelung“. Sie kennt sich aus.

Gills Unbehagen lässt sich auch statistisch fassen: Die Fläche, die ein Mensch in Deutschland heute im Schnitt bewohnt, beträgt 42 Quadratmeter, fast doppelt so viel wie in den sechziger Jahren. Das ist eine Zahl, die auch den Mann von der Firma Schwörer betreten gucken lässt. Dem Familienfrieden an Weihnachten mag es helfen, wenn einzelne Familienmitglieder sich zeitweise in den Kleiderschrank zurückziehen können – ressourcenschonend ist es nicht.

Und dann noch die Kinder.

Es gab eine Zeit, als Eltern froh waren, wenn sie jedem Kind überhaupt ein eigenes Zimmer bieten konnten. Die Zimmer waren oft klein, manchmal hässlich. Julia Gill hat es selbst erlebt als Kind. Sie lacht, so schlimm wird es nicht gewesen sein. Heute kann man in ein Musterhaus der Firma Okal gehen, nur ein paar Meter vom Schwörer-Heim entfernt. Dort steht ein anderer Verkäufer auf dem Teppich eines riesigen Kinderzimmers und erklärt: „Ein Kinderzimmer unter 15 Quadratmetern – das kriegen wir überhaupt nicht mehr verkauft. Irgendwo müssen Sie ja die Spielekonsole und die ganze Technik unterbringen.“ Das ist doch eine Aussage, die gut in die Weihnachtszeit passt.

Der Okal-Vertreter erzählt, dass die Nachfrage nach Kaminen steigt. Warum? „Feuer im Wohnzimmer – das ist Romantik. Das geht einfach rein in die Grundbedürfnisse.“ Noch so eine Äußerung, die nach Weihnachten klingt.