„Leute gewöhnen sich ans Risiko“

Ulrich Marcus, stellvertretener Leiter des Fachbereichs HIV am Robert-Koch-Institut, warnt vor allzu sorglosem Sex. Alltagsstrategien gegen Aids gehören hinterfragt

Berlin taz ■ taz: Herr Marcus, die deutschen Heterosexuellen stellen hinter den Schwulen erstmals die zweitgrößte Gruppe bei den Neuinfektionen dar. Sie haben damit die heterosexuellen Migranten überholt, die aus Ländern stammen, in denen Aids weit verbreitet ist. Droht eine heterosexuelle Epidemie?

Ulrich Marcus: Das wäre ein bisschen übertrieben, denn der Anteil der Personen, die sich auf heterosexuellem Weg infizieren, ist verhältnismäßig gering. Weltweit allerdings ist die heterosexuelle Übertragung der häufigste Weg.

Wie erklären Sie sich, dass der Anteil deutscher Heteros in Deutschland ansteigt – jeder sechste Neuinfizierte gehört zu dieser Gruppe?

Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Zahl der Personen abgenommen hat, die aus Ländern kommen, in denen Aids sehr verbreitet ist, und die sich dort angesteckt haben. Die Anzahl der Personen, die sich auf heterosexuellem Wege angesteckt haben, ist etwa gleich geblieben. In der heterosexuellen Bevölkerung ist HIV/Aids im Vergleich zu den homosexuellen Männern nach wie vor nicht sehr verbreitet.

Es fällt aber auf, dass trotz beständiger Aufklärung die Zahl der Neuinfizierten nicht sinkt. Bei homosexuellen Männern wächst sie sogar kontinuierlich. Ist der Umgang mit Aids etwa zu sorglos?

Wir beobachten Veränderungen im Umgang mit Aids. Die Leute gewöhnen sich an das Risiko und fangen an, es in den Alltag zu integrieren. Es gibt bei schwerwiegenden Risiken anfänglich immer den Reflex, sie zu vermeiden. Ich erinnere nur an BSE, als keiner mehr Rindfleisch kaufen wollte. Das lässt sich im Alltag aber nicht aufrechterhalten.

Zählen Sie den Verzicht auf Kondome zum alltagsgerechten Handeln?

Diese Entscheidung wird häufig in Abhängigkeit der Kenntnisse über den Partner und den eigenen HIV-Status getroffen. Wenn die Menschen ein- oder mehrmals einen Test gemacht haben, entscheiden sie häufiger auf Grundlage des Wissens oder von Annahmen über den HIV-Status ihrer Partner, ob sie auf Kondome verzichten können.

Ist das eine gute Strategie?

Ich würde Probleme dabei sehen. Wir müssen uns mit diesen individuell entwickelten Strategien in der öffentlichen Diskussion und in der Beratung stärker auseinandersetzen. Menschen, die zu dem Entschluss gekommen sind, keine Kondome zu benutzen, werden sicherlich nicht durch Plakate davon abgehalten.

Wodurch dann?

Wir müssen uns mit den Alltagsstrategien, die Menschen wählen, um das Risiko zu umgehen, in individuellen Gesprächen auseinandersetzen und sie darauf abklopfen, wie gefährlich sie sind. Das muss kommuniziert werden.

Ein Drittel der Männer steckt sich im Ausland an, etwa in Osteuropa, wo die Zahl der HIV-Infektionen in den letzten Jahren sehr stark zugenommen hat. Welche Gefahr birgt grenzüberschreitender Sex?

Die Epidemien, die sich in Osteuropa entwickeln, konzentrieren sich zunächst auf Drogenkonsumenten. Aber das Problem ist, dass auch deren Sexualpartner gefährdet sind. Da in Osteuropa vor allem sehr viele junge Drogenkonsumenten infiziert sind, besteht ein sehr hohes Risiko, dass sich daraus eine eigenständige, auf heterosexuellem Wege übertragene Epidemie entwickelt. Jetzt sind wir in der Phase, wo sich entscheidet, ob das passiert. Sollte sich eine eigenständige Epidemie entwickeln, ist das sicherlich mit größerer Gefahr für Westeuropa verbunden.

Wann wissen Sie genau, ob es so weit kommt?

In zwei bis fünf Jahren kann man darüber eine endgültige Aussage treffen. In gewissem Umfang passiert es auf jeden Fall.

INTERVIEW: ANNA LEHMANN