Zu viel Stoff in kürzerer Zeit

Keine Zeit mehr für Sport und Freunde: Umfrage der Elternräte hat ergeben, dass 42 Prozent der Gymnasiasten unter kürzerer Schulzeit leiden. Bildungsbehörde sieht Handlungsbedarf und verspricht mehr Freiheit bei Lehrplänen. Praktiker sind skeptisch

VON KAIJA KUTTER

Hamburgs Gymnasiasten geht es seit der Schulzeitverkürzung von neun auf acht Jahre schlechter – darauf weisen inzwischen zwei Umfragen hin. Erst im Sommer hatte die Elternvertreterin Edda Georgi 7. und 8. Klassen an zwei Schulen befragt und erfahren, dass fast die Hälfe der Kinder über Stresssymptome wie Bauchschmerzen, Ess- und Schlafstörungen klage. Untermauert wurde dieses Ergebnis inzwischen durch weitere Umfragen der Vereinigung der Elternräte an Hamburger Gymnasien, an der sich Eltern und Schüler von 26 der 63 Hamburger Gymnasien beteiligten.

Demnach klagen 42 Prozent der Schüler über Stresssymptome wie Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit, 22 Prozent über Kopfschmerzen und acht Prozent über Bauchschmerzen. Deutliche Einbußen spüren die Befragten im Freizeitbereich: So muss ein Drittel der Schüler auch an langen Schultagen noch mindestens eine Stunde Hausaufgaben machen. Mindestens ein Viertel muss Nachhilfe nehmen. Ein Drittel der Schüler verzichtet wegen der Schule auf Sport und gar die Hälfte auf Verabredungen mit Freunden.

„Diese Umfrage ist ein Stimmungsbild und noch keine wissenschaftliche Untersuchung“, schränkte die Vorsitzende des Elternvereins, Dagmar von Hurter, ein, als sie Anfang November die Ergebnisse auf einer SPD-Fachveranstaltung vorstellte. Auch fehlten Vergleichswerte zu Schülern, die noch in neun Jahren Abitur machen konnten. Gleichwohl sieht sie Handlungsbedarf: „Als man runter ging auf acht Jahre, hat man mehr Stoff in die Klassen verteilt. Das geht offenbar nicht schmerzfrei ab“, sagt von Hurther. „Deshalb sollten die Rahmenpläne entrümpelt werden.“

Doch als vor vier Jahren der erste 5.-Klasse-Jahrgang die verkürzte Gymnasialschulzeit begann, tat der damalige CDU-FDP-Schill-Senat exakt das Gegenteil. „Die neuen Bildungspläne waren unter Rot-Grün fast fertig“, erinnert Meike Jensen von der Elternkammer. „Aber dann kam FDP-Senator Rudolf Lange und schrieb in den Plänen mehr verbindliche Inhalte vor.“ Kaum waren diese verabschiedet, habe die Behörde gemerkt, „dass es ein Fehler war, sie so vollzustopfen.“ „Bis vor ein paar Jahren galt der Erwerb von Schlüsselqualifikationen als wichtig“, ergänzt ein Harburger Schulleiter. „Aber dann kam Pisa, und man hat die Bildungspläne vollgeknallt wie nur was.“ Dies gelte für alle Schulformen, aber an den Gymnasien werde das Problem durch das verkürzte Abitur noch radikalisiert: „Die Kollegen fangen an zu hecheln und schaffen das einfach nicht.“ Mit der Folge, dass Zeit für Übungen fehle.

Das macht die Schüler dümmer, nicht schlauer. Die jüngste zentrale Vergleichsarbeit der 8. Klassen im Fach Mathematik erzielte im Mai einen desaströsen Durchschnitt von 4,3. In einzelnen Klassen schrieb die Mehrheit der Schüler eine fünf oder sechs. „Hier wurden Achtklässlern Textaufgaben vorgegeben, die von den intellektuellen Fähigkeiten her an der Oberstufe ansetzen“, mahnte damals Elternvertreterin Marielle Kirsch. Bildungsbehördensprecher Alexander Luckow dagegen erklärte, es könne „kein Zusammenhang zum achtstufigen Gymnasium gesehen werden“.

Inzwischen hat sich das Blatt etwas gewendet. Nun spricht auch Luckow von Handlungsbedarf: „Es ist offensichtlich, dass bei der Gestaltung der Stoffvermittlung mehr Freiheit rein muss.“ Dies gelte besonders für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. So würden derzeit die Bildungspläne für alle Schulformen überarbeitet und die verbindlichen Inhalte auf ein „Kerncurriculum“ begrenzt. Sie sollen „kompetenzorientiert“ sein und weniger Stoff vorgeben. Doch das dauert noch.

Um den Gymnasien schneller zu helfen, wird laut Luckow jetzt geprüft, „ob diese Umsteuerung bereits für die vorliegenden Bildungspläne gelten kann“. Dabei würden den Schulen nur noch die Anforderungen für zu erwerbende Kompetenzen vorgegeben, über die im Unterricht zu behandelnden „Inhalte“, sollen sie „eigenverantwortlich entscheiden“. Luckow: „Unser Ziel ist, es zum nächsten Halbjahr einzuführen.“ An der Basis hersscht Skepsis, ob diese Lösung hilft. „Die Behörde zieht sich aus der Affäre und nimmt Druck von der Flasche“, kommentiert ein Schulleiter die Pläne. Müssten die Kollegien die Lehrpläne selber entrümpeln, bedeute dies, „endlose Sitzungen, die zu Lasten des Kerngeschäfts gehen“. Die Umstellung auf Kompetenzorientierung sei „grundsätzlich gut“, sagt auch Edda Georgi, setze aber einen Denkprozess voraus, der an den Schulen noch nicht einmal in Gang gesetzt sei. „Sie müssen Lehrer haben, die dafür qualifiziert sind.“ Und die, argwöhnt ein anderer Rektor, „sind es in Deutschland einfach gewöhnt, von den Inhalten her zu denken“. Deshalb beharrte die Kultusministerkonferenz auch auf 265 Wochenstunden, die bis zum Abitur erteilt werden müssen. „Andere Länder um uns herum gehen viel salopper damit um.“